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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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wieder. »Komische Frage. Ja, natürlich.«
    »Dann ist es gut. Ich weiß einfach nie, was Sie denken. Sie sind so ein Mensch.«
    »Was für ein Mensch?«
    »Ich weiß auch nicht, einer von den Menschen, die man schwer durchschaut. Sie sehen immer so aus, als hätten Sie Ihren Spaß, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass das … na ja, dass das nur Show ist.«
    »Wir unterhalten uns hier über sehr tiefgründige Dinge, Tyler, und ich weiß nicht, ob ich dieses Gespräch nach nur zwei Cocktails fortführen kann.« Tante Nick hatte jetzt ihre Mach-dich-nicht-lächerlich-Stimme.
    »Genau das meine ich!«
    »Was denn?«
    »Ich glaube, dass Sie mir gerade eben etwas vorspielen. Ich sehe es.«
    »Jetzt wird es aber sehr merkwürdig!«
    »Ich kann Sie sehen.« Er klang ungemein selbstbewusst. Und dann fügte er hinzu: »Nick.«
    Wieder entstand eine Pause, und ich musste mich schwer zusammennehmen, um nicht hinzugucken. Dann sagte Tante Nick: »Lass mein Handgelenk los, Tyler, Schätzchen! Ich will keine Szene.«
    Sie rauschte in kerzengerader Haltung zur Tür herein und sah mich dort am Fenster stehen.
    »Ed!«, rief sie. »Wo ist Daisy?«
    »Draußen auf dem Steg.« Ich beobachtete sie, ich wollte sehen, wie sie reagierte. Sie muss gewusst haben, dass ich gelauscht hatte, aber sie ging ohne ein weiteres Wort in die andere Richtung davon.
    Ich überlegte, was das bedeuten konnte. Sie hätte tausend Sachen sagen können, zum Beispiel »Tyler Pierce ist stockbesoffen« oder »Meine Güte, dieser Tyler Pierce ist vielleicht ein Spinner!« oder »Ich hatte gerade ein äußerst merkwürdiges Gespräch mit Tyler Pierce«. Aber sie hatte nichts dergleichen gesagt, und deshalb dachte ich darüber nach. Dann folgte ich ihr zu Daisy auf den Steg hinaus.
    »Du bist der langsamste Mensch der Welt, Ed Lewis«, sagte Daisy, als sie mich erblickte. »Und was ist mit meinem Drink?«
    Ich warf einen Blick auf den Gin Tonic und sah, dass ich das Glas fast leer getrunken hatte. »Ich wurde aufgehalten.«
    Tante Nick fummelte in ihrer Handtasche an ihrem Taschentuch herum.
    »Na, wunderbar«, sagte Daisy. »Dann hole ich mir jetzt selbst einen.«
    Sie ging hinein. Ich sah, wie sie an der Bar bei Thomas ihren Drink bestellte, und dann stand plötzlich Tyler neben ihr und legte ihr die Hand ganz unten auf den Rücken. Ich wollte auch hineingehen, aber Tante Nick hielt mich zurück.
    »Ed, Onkel Hughes und ich fahren jetzt zum Abendessen nach Hause. Sorgst du dafür, dass Daisy gut heimkommt? Also nicht ständig irgendwelchen Damen nachjagen, hörst du? Und sie soll nicht so viel trinken. Das gehört sich nicht.«
    »Ich jage keinen Damen nach.«
    »Umso besser«, sagte Tante Nick, aber sie hatte gar nicht richtig hingehört. »Ich stelle euch etwas in die Küche. Sandwiches oder so. Ihr müsst auf jeden Fall etwas essen, wenn ihr zurückkommt.« Sie beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange, und ich roch wieder ihr Parfum. Es brannte ein bisschen in der Nase.
    Sie ging zu Onkel Hughes, der sich gerade an der Austernbar mit einem Mann in einer knallroten Hose mit giftgrünem Gürtel unterhielt. Sie legte ihm die Hand auf den Arm, und er drehte sich um und sah sie an, als hätte er die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet. Dann waren sie weg.
    Ich ging wieder rein und stellte mich neben Daisy und Tyler. Er grinste sie an. Ich war ganz nahe, aber sie bemerkten mich nicht. Manchmal konnte ich das, ganz nah bei jemandem sein, ohne dass derjenige es spürte. Ich hatte noch nicht herausgefunden, worin der Trick bestand, aber dass es damit zusammenhing, dass man ganz still wurde, nicht nur äußerlich, sondern auch im Kopf, das wusste ich. Alles musste stumm und leer sein, dann war es fast, als gäbe es einen nicht.
    »Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich könnte es verstehen, wenn du mich hassen würdest. Ich habe mich letzten Sommer miserabel benommen.« Das sagte er zwar, aber er grinste dabei weiter, als wäre es ein Witz.
    Daisy sah ihn schweigend an.
    »Es hat mir sehr leidgetan. Ich hätte dich nicht so gehen lassen dürfen.«
    »Ja«, sagte Daisy, »du warst widerlich.«
    »Entschuldige bitte. Kannst du mir verzeihen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Lass es mich wiedergutmachen.«
    Sie setzte zu einer Antwort an, aber dann drehte sie sich aus irgendeinem Grund um und sah mich. Sie erschrak. »Mein Gott, Ed – hör endlich auf, dich immer so anzuschleichen!«
    »Ich habe mich nicht angeschlichen.« Das war die Wahrheit. Ich

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