Zeit der Raubtiere
ganz so aus, als würde auch aus dem Abendessen nichts werden.
»Vielleicht nur ein paar Sandwiches. Eiersalat oder Gurke?«
»Eiersalat«, sagte Daisy.
»Sag mal, mein Schatz, kriegt deine Mummy auch so einen feinen Gin Tonic, wie du ihn immer für Daddy machst?«
Daisy stand im grünen Salon und war gerade dabei, den Gin aus der Karaffe sorgfältig abzumessen, als sie die Hintertür ins Schloss fallen hörte. Sie dachte, es wäre Ed. Doch als sie mit dem Glas in der Hand durch den Korridor ging, begriff sie, dass ihre Tante zurückgekommen war. Sie blieb wie angewurzelt stehen und lauschte den geisterhaften Stimmen, die aus der Küche drangen.
Kleine Kinder haben große Ohren.
»Wo war er?«, hörte sie ihre Mutter fragen.
»Auf der Polizeiwache«, antwortete ihre Tante.
»Was hatte er denn dort zu suchen?«
»Er war offenbar bei der Leiche, als die Polizei eintraf … bei dem Mädchen, meine ich. Warum er nicht zusammen mit Daisy weggelaufen ist, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er den Polizisten erzählt, dass er schon seit Tagen dorthin gegangen ist. Er hat nämlich nie an den Tennisstunden teilgenommen.« Daisys Tante legte eine kurze Verschnaufpause ein. »Die Polizei hat ihn dann aufs Revier gebracht, und der Sheriff hat mit ihm geredet und ihn gefragt, ob er dort irgendjemand Verdächtigen gesehen hat.«
»Und wo ist er jetzt?« Ihre Mutter klang gereizt.
»Immer noch dort«, sagte ihre Tante. »Es war wirklich merkwürdig. Er war überhaupt nicht durcheinander, er hat sich nicht mal gefreut, als ich kam. Er saß völlig ruhig auf einem Stuhl in der Polizeiwache. Er hat beinahe gegrinst. Und dann sagte er: ›Mach dir keine Sorgen, Mutter, alles wird gut.‹ Als hätte er nicht gerade ein armes erwürgtes Mädchen gefunden, sondern die Lösung einer Rechenaufgabe. Ich muss dir ganz ehrlich sagen, Nick, es hat mich bis ins Mark erschüttert. Mein eigener Sohn. Sitzt da und grinst, obwohl ein Mädchen gestorben ist.«
»Ja«, sagte Daisys Mutter fast flüsternd.
»Und der Sheriff meinte dann, Ed müsste ihnen noch ein bisschen helfen, und dann würde er ihn gern nach Hause fahren. Ihnen helfen! Wie soll denn mein dreizehnjähriger Sohn der Polizei helfen! Und dann zwinkerte mir der Sheriff zu, so als wäre das Ganze eine reine Männersache. Ist es das denn? Eine reine Männersache? Ach du lieber Gott – wenn nur Avery da wäre!«
»Ich glaube, wir brauchen jetzt etwas zu trinken«, sagte Daisys Mutter. »Hughes wird bald kommen, er weiß, was zu tun ist.«
Wie auf ein Stichwort hin betrat Daisy die Küche.
»Hier ist dein Gin Tonic, Mummy«, sagte sie.
»Danke, mein Liebling. Bist du so lieb und machst auch noch einen Scotch für deine Tante?«
»Ach, Daisy«, sagte ihre Tante und ging auf sie zu. »Meine Liebe, du armes, armes Ding.«
»Es geht mir gut, Tante Helena«, erwiderte Daisy. Würden auch ihre Worte die beiden bis ins Mark erschüttern? Sollte sie weinen oder in Ohnmacht fallen wie im Film? »Ich hole dir schnell einen Scotch.«
Sie holte nicht den Scotch, sondern flitzte in der vagen Absicht, zum Polizeirevier zu laufen und die Freilassung ihres Cousins zu fordern, zur Haustür hinaus. Andererseits hielten sie ihn dort ja nicht wirklich gefangen. Mit diesen Gedanken öffnete sie die Eingangspforte und wandte sich Richtung Morse Street.
»Hallo, Daisy!«
Sie fiel fast in Ohnmacht, als hinter ihr die Stimme ihres Cousins erklang. »Donnerlittchen, Ed Lewis, hast
du
mich erschreckt! Wo kommst du denn her?«
»Ich habe mich hier draußen versteckt und auf dich gewartet«, erklärte Ed seelenruhig.
Daisy drückte ihre Hand aufs Herz, als würde es dann langsamer schlagen. Gleichzeitig war sie noch nie so froh über den Anblick eines Menschen gewesen. »Mensch, Ed, wo bist du denn hingegangen?«
»Nirgendwohin.
Du
bist doch weggerannt.«
»Ja, wegen der gruseligen Zunge.« Die Zunge hatte sich wie geschmolzenes Blaubeereis aus dem staunenden, wächsernen Mund des Mädchens geschlängelt. »Aber ich dachte, du kommst mit mir.«
»Nein, ich bin dageblieben.«
Etwas in seiner Stimme brachte Daisy dazu, nicht mehr dem Pulsieren ihres eigenen Bluts zuzuhören, sondern Ed genauer anzusehen. »Was ist mit deinen Augen?«
»Gar nichts«, sagte Ed.
Aber es war etwas mit seinen Augen. Es waren immer noch Silberfischaugen, aber jetzt sprühten sie vor Leben wie die kleinen Elritzen, die bei Ebbe zwischen Daisys Zehen schwammen. Sie überlegte, wann es zu dieser Veränderung gekommen
Weitere Kostenlose Bücher