Zeit der Raubtiere
war, versuchte sich an die Zeit zu erinnern, bevor sie die Leiche gefunden hatten, aber es ging nicht.
»Hier können wir nicht weiterreden«, sagte sie. »Die machen sich noch ganz verrückt dadrin. Mein Vater kommt und deiner auch. Und das mit dem Tennis wissen sie auch.«
»Weiß schon.« Es schien Ed egal zu sein.
»Wir stecken ganz schön in Schwierigkeiten wegen dir. Hast du Hunger?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Daisy ärgerte sich über jeden, der nicht hungrig war. »Hast du Geld?«
»Der Sheriff hat mir zwei Dollar gegeben, weil ich ihm geholfen habe.«
»Gut, dann kannst du mir ja einen Cheeseburger kaufen. Aber wir gehen besser zum Hafen, damit sie uns nicht sehen.«
Schweigend stopfte Daisy den Cheeseburger in sich hinein, sehr darauf bedacht, das Fett, das sich im Wachspapier sammelte, nicht auf ihre grünen Shorts tropfen zu lassen. Sie saßen auf einer Bank bei der Fähre, abseits des Gedränges am Achterdeck. Ed trug noch immer seine Tennissachen, die mittlerweile jedoch voller Flecken waren, und sein blondes Haar stand stachelig ab. Er schwang die langen Beine leicht hin und her, so dass die Sohlen seiner Tennisschuhe über den Kies scharrten.
»Hast du ihnen das mit den Zigaretten erzählt?«
»Nein«, antwortete Ed. »Wegen der Zigaretten brauchst du dir keine Gedanken zu machen, die haben sie nicht gesehen. Und wenn sie sie doch finden, glauben sie bestimmt, dass sie der Mörder geraucht hat.«
Der Mörder. Daisy hatte noch nicht darüber nachgedacht, wie das Mädchen so zugerichtet worden war. Nur dass es so zugerichtet war. Als Ed die Decke hochgezogen hatte, waren einige Sekunden vergangen, bevor sie überhaupt etwas sah. Und als sie etwas sah, schien eine halbe Ewigkeit zu vergehen, bis ihre Füße sich endlich in Bewegung setzten. Aber jetzt, im Nachhinein, dämmerte es Daisy, dass dem Mädchen das alles von jemandem angetan worden war.
Die eine Gesichtshälfte des Mädchens wirkte eingefallen, und aus dem dunklen, lockigen Haar schwamm die Qualle hervor. Die offenen Augen waren aufgequollen wie bei einem Frosch, und zwischen den Zähnen lag die dicke Zunge. Und dann die Brüste. Die hatten Daisy, abgesehen von der Zunge, die größte Angst eingejagt. Sie hatte noch nie nackte Brüste gesehen, außer die ihrer Mutter. Aber diese Brüste sahen anders aus, irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. An einigen Stellen fehlte etwas, so als hätte ihnen jemand mit einer Ausstechform die Haut weggestanzt und ovale Vertiefungen hinterlassen, die Daisy entgegenstarrten wie verklebte Augen. In dem Moment hatten sich ihre Beine in Bewegung gesetzt.
»Ein Mörder«, sagte sie langsam. »Wissen die, wer es war?«
»Nein«, sagte Ed. »Aber sie heißt Elena Nunes. Der Ausweis lag unter der Leiche. Sie war das Hausmädchen von den Wilcox.«
»Und die Qualle?« Daisy konnte sich noch immer nicht erklären, wie sie dort hatte hingeraten können. War Elena Nunes schwimmen gewesen?
»Welche Qualle?«
»Die an ihrem Kopf«, sagte Daisy. »Du weißt schon, da, wo alles zermanscht war.«
»Das waren das Gehirn und die Kopfhaut«, sagte Ed.
»Woher weißt du das?«, fragte Daisy flüsternd.
»Ich stand bei dem Polizisten, als er es dem Sheriff gemeldet hat. ›Der Kerl hat ihr den Schädel so stark eingeschlagen, dass Teile des Gehirns herausgespritzt sind‹, hat er gesagt.«
»Hat er das wirklich gesagt? Dass es aus dem Kopf herausgespritzt ist?« Daisy drehte sich der Magen um.
»Aber sie ist auch gewürgt worden. Deshalb war ihr Hals so schwarz.« Er sagte es fast wispernd, so wie man in der Kirche sprach.
»Ich glaube es nicht, Ed. Ich kann einfach nicht glauben, dass wir einen ermordeten Menschen gesehen haben.«
»Ich weiß.«
»Meinst du, der Mörder verfolgt uns jetzt? Vielleicht tragen wir schon das Zeichen des Todes.« Daisy hatte eine Geschichte gelesen, in der auf der Stirn der Opfer rote Kreuze erschienen wie geschmolzene Lava.
»Nein«, sagte Ed, »ich glaube, es macht uns zu etwas ganz Besonderem.«
Juli 1959
II
M it der Ankunft von Daisys Vater in Tiger House kehrte wieder Ordnung ein. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden hatte er seine Beziehungen spielenlassen und über einen Freund aus seinem Club Eds Teilnahme an einem Pfadfinderlager gesichert, während Daisys Mutter wieder für alle kochte, die jährliche Sommerparty vorbereitete und sich insgesamt weniger fahrig verhielt. Sie begann sogar, im Garten zu arbeiten, und packte die Picknickkörbe von Daisys Vater für den
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