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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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ausgeführt. So etwas hatte Helena noch nie gesehen. Von außen war es schlicht und glanzlos, ein Betonkasten mit einem Neonschild. Aber innen erinnerte es mit der kleinen, von goldenen Vorhängen gesäumten Bühne und den riesigen mehrstöckigen Kronleuchtern an eine Schmuckschatulle. Helena sah Marlene Dietrich mit irgendeinem französischen Schauspieler und Jimmy Stewart sowie eine dicke, grimmig dreinschauende Frau mit einem gigantischen Hut, eine bekannte Klatschkolumnistin, wie sie von Avery erfuhr. Bei jedem Tisch, an dem sie vorbeigingen, musste sie sich zurückhalten, um nicht »Und wer ist das?« zu flüstern.
    »Ich möchte dich mit Bill Fox bekannt machen«, sagte Avery. Er erwähnte es damals nicht, aber es handelte sich natürlich um den Produzenten, der ihnen den Tisch im Ciro’s beschafft hatte.
    »Sieh an, sieh an«, sagte der Produzent, »das ist also deine Jane Russell.«
    »Hab ich’s dir nicht gesagt, Bill?«
    Helena fühlte sich genauso schön wie jede andere Frau in dem Nachtclub. Weder zu dick noch zu blass, noch beschränkt. Sie war nicht mehr jene Helena, die immer das kleinere Haus hatte und den ärmeren Vater, sondern eine blonde Jane Russell in einem satingefütterten Kleid, das ihr perfekt passte. Sie war bezaubernd.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Das Haus ist großartig. Vielen Dank, dass wir dort wohnen dürfen.«
    »Das Gästehaus«, korrigierte der Produzent sie und strich sich mit der Fingerspitze über den Schnurrbart. »Tja, Avery und ich haben eben eine gemeinsame alte Freundin.«
    »Ach so.« Helena sah Avery an, der ihr aber nur zulächelte.
    »Na, dann amüsiert euch gut, Kinder!« Der Produzent wandte sich zu seinem Tisch um.
    Avery zog Helena am Arm. »Wir sitzen dahinten.«
    Helena blieb noch einige Sekunden lang stehen, unsicher, ob das Gespräch beendet war.
    »Ach, und bitte nicht vergessen, dass das Kleid am Montag in den Kostümfundus zurückmuss«, sagte der Produzent, ohne sich umzudrehen.
     
    Als Helena in der Auffahrt erschien, wartete Daisy schon mit laufendem Motor im Auto. Helena warf einen Blick über den Zaun auf das, was einmal ihr Haus gewesen war. Das Haus, das Nick ihr weggenommen, ja eigentlich gestohlen hatte. Die jetzigen Besitzer, ein junges kinderloses Ehepaar, hatten einen neuen weißen Lattenzaun errichtet, damit ihr Hund, ein gutmütiges Tier, irgendeine Promenadenmischung, nicht weglaufen konnte. Der Hund wedelte unablässig mit dem Schwanz und hatte ein weiches schwarzes Fell. Helena mochte ihn.
    Daisy rief ihr etwas zu, und Helena wandte den Blick vom Cottage ab und ging zum Wagen. Der »Käfer«, wie Daisy ihn immer nannte, war klein und eng und sonnenblumengelb. Helena fühlte sich nach jeder Fahrt darin wie zu einer Brezel gebogen.
    Sie öffnete die Beifahrertür und wurde von einer Radiostimme begrüßt, die sie wegen des imitierten Akzents der Ostküstenelite sofort als die von Bobby Kennedy erkannte.
    Mittlerweile dürfte klar sein, dass die Bombardierung des Nordens den Krieg im Süden nicht beenden wird.
    »Ich verstehe sie einfach nicht, diese Kennedys«, sagte Helena, während sie sich auf den kleinen Sitz zwängte. »Dieser alberne Akzent. Kein Mensch hat so einen Akzent.«
    Daisy drehte am Senderknopf, und anstelle der Nachrichten ertönte blechern klingende Musik. Helena seufzte. Daisy kuppelte aus und fuhr in furchterregendem Tempo rückwärts durch die Zufahrtsstraße zur North Summer Street. Helena bemerkte, dass Daisy ihre Ballerinas unter dem Sitz abgestreift hatte, kreuzte die Beine an den Knöcheln und kam sich unglaublich etepetete vor. Warum fühlte sie sich bloß so alt?
    Es lag nicht nur an Daisy. Die war ja mit ihren zwanzig Jahren im Grunde noch ein Baby. Helena betrachtete das Profil ihrer Nichte, sah, wie der Wind ihr kurzes blondes Haar zerzauste. Erstaunlich, wie wenig sich Daisy mittlerweile von ihrer Mutter beeindrucken ließ. Als kleines Mädchen hatte sie Nick ständig beobachtet. Man hatte förmlich gesehen, wie ängstlich das Kind darauf bedacht gewesen war, den Erwartungen der Mutter gerecht zu werden. Und jetzt war sie so unbekümmert, so unbehelligt. Sie ging mit Nick genauso um, wie Hughes es tat: mit einer gewissen Nachsicht. Allerdings würde sie ja auch bald heiraten, sagte sich Helena. Sie war jung und attraktiv und hatte den Mann bekommen, den sie gewollt hatte. Worum sollte sie sich jetzt noch sorgen? Jahrelang hatte sie sich nach diesem Jungen

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