Zeit der Raubtiere
setzte sich aufrecht hin und betrachtete es noch einmal eine Zeitlang. Dann griff sie nach der kleinen Nähschere auf dem Frisiertisch und schnitt ein winziges Stück von Nicks Gesicht aus dem Bild, hielt das Foto hoch und betrachtete es. Dann schnitt sie noch einen Schnipsel ab, entfernte Nicks Lippen und ihre Nasenspitze, aber es stimmte immer noch nicht, und so schnitt sie das ganze Gesicht heraus. Dann schob sie das Foto zufrieden in den Rahmen zurück und warf das zerbrochene Glas in den Papierkorb.
Erst in diesem Moment fiel ihr ein, dass sie heute Geburtstag hatte. Sie war jetzt vierundvierzig.
»Tante Helena!« Daisy stürmte aus der Küche, als Helena auf die Tür zuging. »Ach Mensch – wir wollten dir das Frühstück ans Bett bringen. Wir sind einfach zu langsam, Mummy«, rief sie über die Schulter hinweg ihrer Mutter zu.
»Sag deiner Tante, sie soll draußen bleiben.« In Nicks Stimme schwang eine gespielte Ernsthaftigkeit mit, die Helena zusammenzucken ließ.
Daisy drehte sich lächelnd zu ihrer Tante um. »Also, du hast die Generalin ja gehört. Bleib da, dann hole ich dein Tablett und leiste dir auf der Veranda Gesellschaft.« Sie gab Helena einen Kuss auf die Wange. »Jetzt hätte ich es fast vergessen: Alles, alles Gute zum Geburtstag!«
Daisy trug äußerst knappe Shorts und ein T-Shirt. Helena konnte die Umrisse ihrer Brustwarzen durch den Stoff hindurch sehen. Daisys Brüste waren klein und spitz, und Helena dachte an ihre eigenen, die kurz zuvor so schwer in den Händen gelegen hatten. Das Mädchen war winzig, genauso leicht und blond wie der Vater. Helena fiel wieder ein, dass Nick einmal davon gesprochen hatte, sie lebe im Haus der Guten und Goldenen. Sie verstand, was ihre Cousine damit gemeint hatte. Es konnte einen zermürben.
Daisy stellte das Tablett auf den klapprigen weißen Verandatisch. Eier Benedikt, Toast, ein Stück Cantaloupe-Melone mit einem Schnitz Zitrone, Orangensaft.
Sie sang »Tataa!« und spreizte die Hände über dem Tablett. »Mummy macht gerade deine Geburtstagsüberraschung.«
Eine wirkliche Überraschung würde es nicht werden, wenn Helena mit ihrer Vermutung richtiglag. Früher hatte sie Engelskuchen geliebt, inzwischen aber schon seit Jahren den Geschmack daran verloren, ohne dass sie je danach gefragt worden war. Also aß sie ihn Jahr für Jahr, und bei jedem Bissen empfand sie Ablehnung.
Helena tauchte die Gabel in die Sauce hollandaise und leckte sie ab. Eines konnte man Nick zugegebenermaßen nicht absprechen, nämlich dass sie kochen konnte, wenn sie denn dazu kam. Die Sauce war köstlich, cremig, mit einem Schuss Zitrone.
»Das ist aber wirklich lieb von euch«, sagte Helena. »Ihr sollt mich doch nicht so verwöhnen.«
»Du hast Geburtstag. Am Geburtstag darf jeder verwöhnt werden.«
»Wenn du meinst.« Helena teilte ihr Hefebrötchen. »Wann bist du denn gestern Abend gekommen?«
»Ich habe gerade noch die letzte Fähre erwischt. Ty konnte sich zwar nicht von der Arbeit loseisen, aber die Geburtstagsfeier heute Abend will er auf keinen Fall versäumen.«
»Und – gibt es Neuigkeiten von der Hochzeitsfront?«
»Bestimmt, aber mir sagt ja keiner was.« Daisy lachte ein bisschen übertrieben fröhlich. »Ich habe diese Hochzeit so satt, ich könnte nur noch heulen. Ich würde so viel lieber heimlich heiraten, aber du weißt ja, wie es ist – Mummy und Tyler lassen sich einfach nicht davon abbringen. Ständig stecken sie die Köpfe zusammen und hecken irgendwas aus – welche Blumen, welche Musik oder sonst ein Detail. Und wenn wir nicht hier sind, hängen die beiden zu jeder Tages- und Nachtzeit am Telefon und schmieden ihre Pläne.«
»Na ja, sie wollen es dir eben schön machen.« Helena aß einen Bissen pochiertes Ei. »Obwohl« – sie schluckte und warf Daisy einen Blick aus den Augenwinkeln zu –, »eigentlich ist es eher ungewöhnlich, dass sich der Bräutigam so für das banale Drumherum interessiert.«
»Nicht besonders männlich, stimmt. Ich sage ihm das auch immer. Aber ich sollte mich wahrscheinlich eher geschmeichelt fühlen, weil er so aufgeregt ist. Wie auch immer, die Hochzeit langweilt mich. Was hast du denn heute an deinem Geburtstag vor?«
»Ach, keine Ahnung. Darüber habe ich gar nicht richtig nachgedacht.«
»Schade, dass Ed nicht hier ist«, sagte Daisy und trank einen Schluck von Helenas Saft.
Es empörte Helena. Es war so typisch Nick, so ungeniert, so anmaßend. Am liebsten hätte sie Daisy das Glas
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