Zeit der Raubtiere
das Zimmer und strich liebevoll über das »Blutzoll«-Plakat. »Keine Sorge!« Er drehte sich zu Helena um, die wie vom Donner gerührt in der Tür stand. »Sie ist tot.«
Helena starrte ihn schweigend an. Mit einem Mal hatte sie nicht mehr die geringste Ahnung, wer dieser Mann war.
»Ich muss … nein, ich will dir alles erzählen.« Er fuhr sich durchs Haar; dann sah er sie an. »Darf ich?«
Helena nickte, aber sie hatte Angst.
»Bevor ich dich kennenlernte, war ich mit Ruby verheiratet. Nicht so wie du und ich im Rathaus getraut, sondern in unseren Seelen. Sie war schön und begabt und brachte mir bei, frei zu sein. Schau her!« Er nahm ein Foto vom Schreibtisch und hielt es hoch. Da lag eine Frau mit dunkel schattierten Augen und schulterlangem Lockenhaar, den Blick von der Kamera abgewandt. »Das ist sie. Das ist Ruby.«
Helena musste zugeben, dass sie glamourös, ja sogar schön war. Ihr wurde leicht übel. »Was ist mit ihr passiert?«
»Sie wurde umgebracht«, sagte Avery.
»Von wem?« Helena war sich nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte.
»Von allen. Von der Welt und ihrem erbärmlichen Neid.« Avery seufzte und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. »Man fand ihre Leiche in ihrem Auto, in einer Nebenstraße des Sunset Boulevard.« Er warf noch einen Blick auf das Foto. »Sie wurde erwürgt. Die Polizei meinte, wahrscheinlich wollte sie einer abschleppen, und das Ganze lief aus dem Ruder. Die haben sie als Prostituierte bezeichnet, als Hure. Dabei sind
die
doch der Abschaum. Ruby hätte sich niemals verkauft. Niemals.«
Helena fühlte sich, als wäre sie betrunken. Oder in einem Traum, in dem man weiß, dass man im eigenen Haus ist, aber es ist nicht das eigene Haus. Sie zog den hauchdünnen Morgenmantel, den sie für die Hochzeitsnacht gekauft hatte, enger um sich.
»Avery, Liebster, ich möchte wieder ins Bett. Mir ist kalt.« Sie dachte, dass sie, wenn sie diesen grauenhaften Raum verließen und die Tür schlossen, vielleicht so tun könnten, als wäre das alles gar nicht geschehen. Dass sie nur ins Schlafzimmer gehen und die Zeit zurückdrehen müssten.
Averys Gesichtsausdruck veränderte sich. »Armes Mäuschen, ich habe dir Angst gemacht.« Er erhob sich vom Boden und nahm Helena in die Arme. »Ich weiß, es ist ein bisschen viel und klingt vielleicht auch irgendwie verrückt, aber du musst mir vertrauen.«
Seine Arme wärmten sie. Sie dachte daran, wie er »meine Frau, mein Filmstar« geflüstert hatte, als sie miteinander schliefen.
»Die Sache ist die: Sie starb während der Dreharbeiten zu einem Film. Und diesen Film werde ich vollenden. Ich muss nur noch das Kapital beschaffen, um ihn dem Studio abzukaufen.« Er sprach jetzt sehr schnell, fast als hätte er es auswendig gelernt. »Ich werde mit einem Double drehen. Jean Harlow wurde in ›Saratoga‹ auch gedoubelt. Aber das Double muss Ruby wirklich verstehen, wirklich kennen. Und dafür ist das alles hier. Ich setze sie einfach wieder zusammen.«
»Avery …« Helena löste sich aus seiner Umarmung.
»Warte!« Er umklammerte ihre Hand und hielt sie an seine Wange. »Stoß mich nicht von dir, bitte, Helena!« Sein Blick war verzweifelt und voller Trauer. »Hast du dich nie allein gefühlt? So, als würdest du zu nichts und niemanden gehören? So, als würdest du jeden Moment verrückt werden, weil es so vieles gibt, was du dir wünschst?« Er schüttelte den Kopf. »Sag jetzt nicht nein, denn ich weiß es. Ich wusste es von dem Augenblick an, als ich dich in der Eisenwarenhandlung sah. Dieser Schmerz, dieses Vorgeben, alles wäre in Ordnung, obwohl du innerlich tot warst. Genauso ging es mir. Wir gehören zusammen, Helena. Wir können alles wieder in Ordnung bringen. Wir können einander retten.«
Helena sah ihn an. Gut, es stimmte, sie wusste, wie sich das anfühlte. Immer die Nettere, die Ärmere sein, die nichts Eigenes hat. Das hübsche Mädchen, mit dem die Jungen schmusen konnten, ohne dass es irgendwelche Konsequenzen gab, immer zu ängstlich und zu sehr gedemütigt und zu unwichtig, um sie zu verpetzen. Diejenige zu sein, die sich, selbst bei Fen, für jede winzige Freundlichkeit bedankte, als hätte sie sie nicht verdient. Sie hatte es verdient. Sie verdiente es, glücklich zu sein. Und jetzt, mit Avery, mit ihrem Mann, würde sie es nicht mehr allein tun müssen.
Auf dem Weg nach Vineyard Haven hielt Daisy kurz an, um eine Besorgung zu machen. Helena sah zu, wie ihre Nichte das Päckchen behutsam
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