Zeit der Raubtiere
stieß sie hervor, als der Produzent weg war. Sie hatte sich in das Laken gehüllt. Sie hätte ihrem Sohn so gern die Hand entgegengestreckt, ihm ein Friedensangebot gemacht, aber eine solche Geste, auch nur die Vorstellung davon, erschien ihr grotesk. »Dein Vater, mein Schatz. Er arbeitet schon seit langem so schwer …« Sie unterbrach sich. Das hier konnte sie ihrem Sohn nicht erklären.
»Ich verstehe«, sagte Ed. »Nachforschungen.«
Mit diesen Worten ging er und ließ sie allein in dem hell erleuchteten Zimmer zurück.
Helena wurde von Radiostimmen geweckt.
»Am Dienstagnachmittag wurde ein Bus, der mit einer Gruppe junger Bürgerrechtsaktivisten nach Birmingham, Alabama, unterwegs war, am Stadtrand von Anniston angegriffen.«
Ihre Nerven waren wie aus Glas, in ihrem Kopf pochte es. Aber die Übelkeit war weg, und sie konnte sich aufsetzen, ohne dass ihr schwindlig wurde. Sie nahm den Krug und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Es schmeckte süß und nach Zitrone. Sie stürzte es hinunter und goss sich ein zweites ein.
»Helena?«
Helena hob den Blick. In der Tür stand Nick.
»Wie geht es dir, Süße?«
»Mein Kopf tut weh.«
»Ach, Süße, du bist wieder bei uns, im Land der Lebenden!« Sie ging durch das Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. »Du hast tagelang nicht gesprochen. Ich hatte schon Angst, wir würden deine Stimme nie wieder hören.«
Nick wollte Helenas Hand nehmen, aber Helena zog sie weg.
»Was hast du denn?«
»Ich will Avery sehen.«
»Verstehe.« Nick senkte den Blick und spielte mit einem Zipfel des Bettlakens herum. »Avery wird wohl eher nicht kommen, Süße.«
»Du erlaubst ihm nicht zu kommen, meinst du. Weiß er überhaupt, wo ich bin?«
»Das glaube ich nicht.« Aus Nicks Gesicht sprach sanftes Mitleid.
»Wir fahren nach Hause, Süße. Du warst in schlechter Verfassung. Du musst ganz gesund werden, und Hughes und ich wollen dich wieder bei uns haben. Du hast mir gefehlt, ich will nicht mehr ohne dich sein.«
Helena lachte. Es war ein heißes, leichtes Zittern, das ihre Lunge durchfuhr. »Ich habe dir gefehlt?«
»Ja, Helena, du hast mir gefehlt. Ich will …«
»Du willst, du willst.« Da war wieder der Juckreiz. Am liebsten hätte sich Helena die Haut mit den Fingernägeln vom Körper gerissen. »Und was ist mit dem, was ich will?«
»Jetzt sei doch vernünftig, Helena. Willst du wirklich in dieses grauenhafte Haus zurück und dort allein leben?«
»Ich bin nicht allein. Ich bin verheiratet, falls du das vergessen hast.«
Nicks Augen wurden kaum merklich dunkler. »Ich habe es nicht vergessen.« Sie klang jetzt sehr kühl. »Aber dein Mann offensichtlich.«
»Hör auf damit!« Helena fühlte ihre Kräfte schwinden. »Ich weiß, dass er nicht so perfekt ist wie dein Gatte, dieser Heilige. Aber ich will mit ihm sprechen.«
»Nein«, sagte Nick langsam. »Nein, tut mir leid, Süße, das kann ich dir nicht erlauben. Zumindest jetzt noch nicht.«
»Du kannst mich doch nicht gefangen halten. Du kannst mich nicht daran hindern, mit Avery zusammen zu sein.«
»Ich halte dich nicht gefangen. Ich versuche dich zu schützen, und es ist mir scheißegal, was du sagst.«
»Das ist mir klar. Avery hatte von Anfang an recht. Ich war dir nie wirklich wichtig. Ich bin dein Schatten, nur dazu da, dich besser aussehen zu lassen, und wenn du fertig bist, bekomme ich, was übrig ist. Aber etwas Eigenes darf ich nicht haben. Das erträgst du einfach nicht, was?«
»Wie kannst du so mit mir reden!« Nicks Augen begannen zu funkeln. »Ich liebe dich. Weißt du das nicht?«
»Aber ich liebe dich nicht. Nicht mehr.«
»Es geht dir nicht gut, Süße.« Nick erhob sich vom Bett und ging zur Tür. »Ich weiß, dass du es nicht so meinst.«
Helena hörte sie im Nebenzimmer weinen. Und obwohl es ein bisschen schmerzte, es mitzubekommen, freute sie sich.
August 1967
N ach der Sache mit dem Nachbarhund hatte Helena versucht, den grauenhaften Haarmopp auszubürsten, war jedoch nicht sonderlich erfolgreich gewesen. Deshalb hatte sie sich auf die Chaiselongue in ihrem Zimmer gelegt und war eingeschlafen, wurde aber einige Zeit später vom Klopfen an der Tür geweckt. Die Sonne sank bereits zum Wasser hin, und auf dem Rasen vor dem Haus summten die Käfer. Das Gras war schon seit Wochen braun, ausgedörrt vom langen, heißen Sommer.
»Helena?«, hörte sie Nick leise rufen. »Kann ich reinkommen, Süße?«
Helena seufzte.
Nick wartete die Antwort natürlich nicht erst ab,
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