Zeit der Raubtiere
unschuldig?«
»Ich war unschuldig, ja. Das weiß ich genau.«
Helena hörte sie unten reden. Offenbar war Tyler gekommen. Sie hörte seine Stimme und dann Daisys Lachen. Daisy lachte auf eine ganz bestimmte Art: wie ein Mädchen, dem ein geliebter Mensch ein charmantes Kompliment gemacht hat.
Helena zog ihren Hüfthalter an und betrachtete das auf dem Bett liegende Kleid. War ja klar, dass Nick es in Ordnung fand, ihr etwas Getragenes zu schenken, etwas Gebrauchtes. Helena hatte mit dem Gedanken gespielt, das Kleid in den Papierkorb zu werfen. Aber dann würden sie sich wieder Sorgen machen und glauben, es gehe ihr wieder schlecht. Dann kam das Kleid eben ganz nach hinten in den Schrank und konnte dort von ihr aus bis in alle Ewigkeit bleiben.
Doch als sie es so auf dem Bett liegen sah – blau, die Farbe des Abends, und die meisterlich gestickten goldenen Tiger –, dachte sie noch einmal darüber nach. Sie nahm es, zog es sich über den Kopf und schloss den seitlich angebrachten Reißverschluss. Es passte wie angegossen, das musste sie Nick lassen.
Sie ging zum Frisiertisch und blickte in den Spiegel. Das Kleid hatte dieselbe Farbe wie ihre Augen, und eine Sekunde lang wünschte sie, Avery könnte sie darin sehen.
»Ich liebe dich«, hätte er gesagt. »Mein Filmstar.«
Sie senkte die Lider und stellte sich vor, wie er ihr die Arme entgegenstreckte. Dann würde sie ihm um den Hals fallen, und er würde sie ganz fest an sich drücken.
Sie öffnete die Augen und betrachtete sich, wie sie da in dem blauen Kleid mitten im Zimmer stand. Nein, entschied sie, sie würde es tragen. Dieses Kleid war wie für sie gemacht; Tiger standen ihr ausgezeichnet. Tiger waren geradezu perfekt.
»Sie sprechen von Seelenverwandtschaft. Wenn das zutrifft, warum, glauben Sie, kommt Ihr Mann Sie dann nicht besuchen?«
»Weil er nicht weiß, wo ich bin.«
»Ach so. Und wie kommt das?«
»Weil sie es ihm nicht sagt. Sie hat ihm Geld gegeben, damit er sich fernhält.«
»Und warum sollte er das Ihrer Meinung nach akzeptieren? Warum sollte er Geld dafür nehmen, dass er seine Frau aufgibt?«
»Er brauchte das Geld, Dr. Kroll. Er brauchte es für etwas, an dem er schon sein ganzes Leben lang arbeitet. Für ihn ist es das Wichtigste auf der Welt.«
»Demnach wären Sie verzichtbar.«
»Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.«
»Wie kommt das?«
»Weil Sie anklingen lassen, dass er eine Wahl hatte, aber er hatte keine Wahl.«
»Er hatte keine Wahl?«
»Nein. Sie hatte die Wahl. Wir nicht.«
»Tante Helena?« Daisy klopfte an die Tür.
Wofür hielten die ihr Zimmer – für die Grand Central Station? Warum konnte man sie nicht einen einzigen Moment lang in Ruhe lassen?
»Ja, mein Lämmchen. Was kann ich für dich tun?«
Daisy öffnete die Tür und lugte, genau wie Nick, ins Zimmer.
»Ich habe eine Überraschung für dich.«
»Na so was! Ich bin doch heute schon genug verwöhnt worden.«
Sie hörte Daisy hinter der Tür flüstern. Helena wandte sich wieder dem Spiegel zu.
»Hallo, Mutter.«
Als sie aufsah, stand ihr Sohn in der Tür. Es verschlug ihr den Atem, wie hübsch er war.
»Ed, mein Liebling.« Sie stand auf, um ihm entgegenzugehen, zögerte aber plötzlich und blieb kurz vor ihm stehen. »Na, das ist aber wirklich eine Überraschung!«
»Ich weiß«, sagte Daisy und drängte sich hinter Ed herein. So machte sie es immer – ständig berührte sie ihn, kommandierte ihn herum, als gäbe es keine Grenzen zwischen ihm und ihr. Helena beneidete sie. »Ist das nicht einfach super? Ty hat ihn aus der Stadt mitgenommen.«
Ed drehte sich zu seiner Cousine um. Seine Miene blieb wie immer so gut wie unverändert, obwohl Helena jetzt etwas Weiches darin entdeckte. Sie fragte sich einmal mehr, ob ihr Sohn in ihre Nichte verliebt war. Aber das war es nicht genau. Es war etwas anderes, sie konnte es nicht recht sagen. Auf jeden Fall kam es Daisy sehr zupass.
»Ed macht zwar ein großes Geheimnis aus seinem Leben, aber ich habe ihn trotzdem aufgestöbert.« Daisy strahlte vor Freude über ihren Coup.
»Alles Gute zum Geburtstag, Mutter!« Ed ging zu Helena und küsste sie auf die Wange. Der Kuss war weder warm noch kühl. Helena wollte ihn nicht als pflichtschuldig abgeliefert bezeichnen, aber es fehlte nicht viel.
»Musst du viel arbeiten, Schatz?«
»Ja, genau, was treibst du eigentlich den ganzen Tag, Ed Lewis?« Daisy stampfte in gespielter Empörung mit dem Fuß auf. »Ich habe bestimmt
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