Zeit der Raubtiere
hundertmal bei dir im Büro angerufen, und immer hieß es, du seist geschäftlich unterwegs. Was hat denn bitte ein Marktforscher außerhalb des Büros zu tun? Ich dachte, ihr sitzt alle in irgendwelchen unterirdischen Verliesen und brütet über irgendwelchen Zahlen.«
»Hausfrauen in Iowa«, erklärte Ed. »Was sie vom neuesten Hoover-Modell halten.«
»Den ganzen Weg von Iowa hierher und wieder zurück, nur weil ich Geburtstag habe? Das finde ich wirklich rührend.« Helena legte zaghaft die Hand an Eds Wange. Er war so blass, als wäre er den ganzen Sommer über nie an die Sonne gekommen.
»Also«, sagte Daisy und sah abwechselnd zu Ed und Helena hinüber, »ich gehe jetzt besser und helfe Mummy. Ihr wisst ja, wie sie ist, wenn sie ein Essen vorbereitet. Aber schön brav sein, während ich weg bin!«, schäkerte sie über die Schulter hinweg und winkte den beiden kurz zu.
Ed blickte Daisy nach; dann wandte er sich wieder Helena zu. »Was ist mit deinen Haaren passiert?« Im Gegensatz zu Nick machte er sich nicht über sie lustig, sondern wollte es wirklich wissen.
Helena lachte. »Ich hatte leider einen kleinen Streit mit der Friseuse. Daisy wollte mir eine Freude machen. Ich war wohl heute Vormittag ein bisschen melancholisch gestimmt.«
»Und sie hat geglaubt, dass es damit besser wird?«
»Ach, Ed, sie hat bestimmt nicht erwartet, dass dabei
so etwas
herauskommt.« Helena ging zum Spiegel und fuhr sich durchs Haar. »Hast du Tante Nick schon begrüßt?« Sie versuchte locker zu klingen, beobachtete aber gespannt das Gesicht ihres Sohns im Spiegel.
»Ich habe sie noch nicht gesehen.« Er wirkte gleichgültig.
»Schön, dass Tyler es geschafft hat, zum Essen zu kommen. Er versteht sich so gut mit der ganzen Familie, besonders mit deiner Tante.«
Helena ließ den Blick über die Ansammlung von Lippenstiften auf dem Frisiertisch schweifen und versuchte, eine zum Kleid passende Farbe zu wählen. Schließlich nahm sie Catch Me Coral. »Obwohl ich sagen muss, dass ich mich manchmal frage, ob Daisy das überhaupt recht ist. Er ist ja geradezu vernarrt in Tante Nick.«
»Ja«, sagte Ed, »er beobachtet sie.«
»Ich weiß nicht, wie ich es als angehende Braut finden würde, dass mein Liebster einer anderen so viel Aufmerksamkeit schenkt, auch wenn es die eigene Mutter ist.« Helena schminkte sich die Lippen und lehnte sich auf dem Hocker zurück, um das Ergebnis zu begutachten. »Aber Daisy ist ein so liebes Mädchen, sie würde es nie sagen, wenn sie ein Problem damit hätte.«
»Was soll das heißen, Mutter?«
»Gar nichts.« Helena drehte sich zu ihm um. »Ich möchte einfach nicht, dass Daisy verletzt wird, das ist alles. Du doch bestimmt auch nicht.«
»Nein«, sagte Ed. »Das würde ich verhindern.«
»Ja, natürlich.« Helena tat, als müsste sie etwas an ihrem Kleid richten. »Aber deine Tante Nick ist eben … na ja, sie kann sehr stur sein, wenn sie sich im Recht glaubt. Manchmal muss man solche Menschen dazu zwingen einzusehen, wie gefährlich ihr Verhalten sein kann. Weißt du, was ich meine?«
Ed betrachtete sie schweigend.
Helena drehte den Hocker wieder zum Spiegel hin, glättete ein letztes Mal ihr Haar und legte ihre Perlenohrringe an. »So«, sagte sie und klatschte sich, Eds Spiegelbild im Blick, auf die Knie. »Gehen wir nach unten zu den anderen?« Sie versuchte sich an Nicks Hundert-Watt-Grinsen, an einem breiten Lachmund und funkelnden Augen. Aber letztlich hatte sie nur das Gefühl, die Zähne zu fletschen.
»Was ist mit Ihrem Sohn, Mrs. Lewis? Sie sagten, Sie hätten in den letzten Jahren kaum Kontakt miteinander gehabt. Wie kommt das? Hat das etwas mit Ihrem Mann zu tun?«
»Nein. Mein Sohn ist Teenager. Ich glaube, Jungen im Teenager-Alter haben ganz allgemein wenig Zeit für ihre Mütter.«
»Ich verstehe.«
»Warum schauen Sie mich dann so an?«
»Weil ich diese Einschätzung eher nicht teile.«
»Mein Gott, Dr. Kroll, ich weiß es nicht!«
»Ich glaube schon, dass Sie es wissen, Mrs. Lewis. Sie sagten, er sei immer weniger kommunikativ gewesen, nachdem er eine Leiche gefunden habe, im Sommer vor mehreren Jahren, nicht wahr?«
»Ich habe gesagt, dass ihm das wahrscheinlich Angst gemacht hat, und nach diesem Sommer wurde er ein bisschen stiller. Aber Ed war immer schon anders. Ich weiß, in diesem Raum gilt das als schmutziges Wort, aber was, bitte schön, soll schlimm daran sein, wenn jemand nicht so ist wie der Rest der Welt?«
»Setzt Ihnen der Gedanke
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