Zeit der Raubtiere
zu, dass er anders als andere Jungen seines Alters ist?«
»Was habe ich denn gerade gesagt?«
»Sie dachten offenbar, ich könnte anderer Meinung sein, was mich zu der Annahme führt, dass Ihnen die Vorstellung nicht ganz behagt.«
»Ich glaube, Sie sind einfach viel, viel klüger als ich, Herr Doktor.«
»Mrs. Lewis, ich bin dazu da, Ihnen zu helfen. Ich weiß, dass Sie nicht ganz freiwillig hierherkamen, aber aus unseren gemeinsamen Stunden kann ich mit großer Gewissheit den Schluss ziehen, dass Sie, um es milde auszudrücken, sehr, sehr unglücklich sind. Unglückliche Menschen gelten als krank. Wir müssen einen Weg finden, der es Ihnen ermöglicht, sich besser zu fühlen, verstehen Sie?«
»Damit ich frei sein kann.«
»Wenn Sie möchten.«
»Wahrscheinlich hat es mich doch gestört, dass er nicht wie andere Gleichaltrige war, Ed, meine ich. Aber er hat so eine merkwürdige innere Stärke. Ich glaube, er ist zu Großem berufen. Viele ungewöhnliche Menschen tun Großes.«
»Sie halten ihn für etwas Besonderes.«
»Ja, für etwas Besonderes. Und ich halte ihn für stark. Stark sein ist das Allerwichtigste.«
Auf dem Tisch standen Vasen mit rosaroten Cosmeen, und Helenas Teller war mit einem goldenen Papierkrönchen dekoriert. An Eds Arm betrat sie den blauen Salon, wo sich alle außer Nick, die man in der Küche summen hörte, zum Cocktail versammelt hatten. Daisy saß in einem dünnen, mit Efeu bedruckten Sommerkleid auf Tylers Schoß, und Hughes erzählte gerade irgendetwas Lustiges.
»Aha«, sagte er, als er Helena in der Tür sah. »Was darf ich unserem reizenden Geburtstagskind zu trinken bringen?«
»Ein Glas Champagner wird schon nicht schaden.«
Hughes füllte ein Glas und reichte es an Tyler weiter, der es Helena brachte.
»Herzlichen Glückwunsch, Tante Helena!«, sagte er, als er ihr die Champagnerschale reichte. Er trug seine übliche Montur, Khakihose und ein gestreiftes Oxfordhemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Der perfekte Schwiegersohn.
»Danke, Tyler. Es war sehr nett von dir, Ed zu meiner kleinen Feier mitzubringen.«
»Es war mir ein Vergnügen. Nick wusste, wie sehr du dich darüber freuen würdest, und Daisy hat nicht aufgegeben, bis sie ihn gefunden hatte. Wie war das noch gleich, Kumpel? Iowa? Hausfrauen und Hoover-Geräte?«
»Ja«, sagte Ed, »Hausfrauen und Hoover-Geräte.« Bestürzt sah Helena die Härte im Gesicht ihres Sohnes. Einen Augenblick lang hatte sie die bizarre Vorstellung, er würde Daisys Verlobten gleich in Stücke reißen.
Selbst Tyler zuckte leicht zusammen.
Helena betrachtete die beiden noch einige Sekunden lang, dann trank sie einen Schluck Champagner. »Absolut köstlich.«
»Wisst ihr, eigentlich hasse ich ja diese Festessen«, sagte Nick, die in diesem Moment hereinkam. Sie trug noch die weiße Seidentunika vom Nachmittag. »Dann stehe ich nämlich immer in der heißen Küche, während alle anderen ihren Charme und Witz ohne mich versprühen.«
»Mein armer Liebling«, sagte Hughes. »Wir dürfen dir so etwas wirklich nicht mehr aufzwingen.«
»Ja, Mummy, wo wir doch alle wissen, wie sehr du diese Festessen hasst«, sagte Daisy. »Was für eine Heuchlerin!«
»Ja, lach nur! Du weißt doch, dass ich mit dem Kochen einzig und allein deshalb angefangen habe, weil ich deinen Vater dazu bringen wollte, mich zu lieben. Ziemlich erbärmlich, was?«
»Hat aber funktioniert«, sagte Hughes und ging zu ihr.
Plötzlich sah Helena die beiden vor sich, als sie noch nicht verheiratet waren. Es war auf der Straße vor dem Haus. Nick rief Helena etwas zu, und Hughes stand neben ihr. Er hatte den Arm um sie gelegt und sah sie an, als könnte er sein Glück nicht fassen.
»Also, ich bin auf Nicks Seite«, sagte Tyler, fuhr sich durchs Haar und lächelte sein typisches schiefes Jungenlächeln, das Helena fast wahnsinnig machte. »Es ist nämlich nicht nur ihr gegenüber unfair, sondern auch uns gegenüber, weil wir ohne ihre Gesellschaft auskommen müssen.«
»Was bist du doch für ein cooler Typ, Tyler Pierce«, sagte Daisy und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wenn ich nicht aufpasse, verwandelst du dich noch in einen Salonlöwen.«
»Auf jeden Fall werde ich nie um Worte verlegen sein.«
»Gott bewahre!«, sagte Helena.
Am Tisch setzte sich Helena das Krönchen auf. Kaum war es oben, hätte sie es am liebsten wieder heruntergenommen, befürchtete jedoch, man könnte ihr das als Unversöhnlichkeit auslegen, und behielt es auf,
Weitere Kostenlose Bücher