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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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dann: Nick. Er musste nachdenken. Er zwang sein Gehirn zum Funktionieren. Zu guter Letzt schaffte er es mit fast übermenschlicher Anstrengung, den Jungen loszulassen.
    »Nein, Ed«, sagte er ruhig, »ich glaube nicht, dass du irgendwelche Briefe gefunden hast.« Er sah ihn an. »Ich glaube, dass du ein erbärmlicher kleiner dreizehnjähriger Wicht bist, den man dabei erwischt hat, wie er vor zwei Erwachsenen wichste, die es miteinander trieben. Wie traurig. Bei so etwas denken die Leute: ›Tja, ein verwirrtes, völlig verkorkstes Kind.‹ Und dann fangen sie an, über andere Sachen nachzudenken, zum Beispiel darüber, dass so einer zu labil ist, um frei herumzulaufen, etwas in der Art. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ich finde nicht, dass ich verwirrt bin«, sagte Ed, den Blick unverwandt auf Hughes gerichtet. »Aber ich kann ja Tante Nick fragen, vielleicht weiß sie es.«
    Hughes nickte ganz langsam, und dann versetzte er Ed einen so heftigen Schlag mit dem Handrücken, dass der Junge quer über den Gehsteig zu liegen kam. Er tastete den Mund mit den Fingern ab, blieb aber liegen.
    »Steh auf!«, sagte Hughes.
    Als Ed wieder stand, packte Hughes das Gesicht des Jungen und drehte es hin und her. Es war kein Blut zu sehen.
    »Du gehst jetzt nach Hause – und weck bloß nicht deine Mutter auf!« Hughes war so heiser, als wäre er in der Kälte gelaufen. »Und wage es nie wieder, mir zu drohen!«
    Ed sah ihn an. Er weinte nicht, er machte sich nicht über Hughes lustig und jammerte auch nicht wegen des Schlags, sondern neigte nur leicht den Kopf zur Seite, drehte sich um und ging die Morse Street hinunter, nach Hause.
    Als Hughes in Tiger House ankam, war alles ruhig, und er konnte nach den Briefen sehen, die er in einem Werkzeugkasten unter seiner Werkbank im Keller aufbewahrte, weil er wusste, dass weder Nick noch Daisy dort jemals einen Blick hineinwerfen würden. Er hob das Fach mit den losen Nägeln und Schrauben heraus und fand die Briefe scheinbar unberührt vor. Evas schönes, glattes Papier lag in einem ordentlichen Stapel da. Er nahm das oberste Blatt.
     
    Southampton, 3. März 1945
    Lieber Hughes,
    während ich dies schreibe, schlingerst und stampfst Du wohl gerade irgendwo auf dem Atlantik dahin. Ich dagegen sitze hier an meinem tristen Schreibtisch und träume immer noch von dem märchenhaften Steak, das wir letzte Woche gegessen haben. Ich muss gestehen, es hatte etwas Befreiendes und leicht Skandalöses, meine Scheidung so zu feiern. Mit Champagner und Steak! Was wohl das Kriegsministerium dazu sagen würde? Ach, egal. Ich bin jetzt eine gefallene Frau und genieße es in vollen Zügen.
    Eine Freundin von mir würde uns ihr Haus in Devon leihen, wenn Du das nächste Mal Urlaub hast. Es ist nur ein kleines Cottage, aber für uns muss ja nur ein Bett hineinpassen. Ich weiß nicht mal, wie man Eier hart kocht (schlimm?), wir brauchen also auch keine Küche. Wir werden den ganzen Tag nackt herumlaufen, und ich werde mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Dich stürzen.
    Hughes, ich weiß gar nicht, ob ich all das Glück ertragen kann. Bitte, bitte, bleib gesund! Es ist so viel Trauriges ringsumher, das macht mir Angst. Es klingt ein bisschen theatralisch, ich weiß, aber ich kann nicht anders. Schließlich steht die Welt in Flammen. Komm einfach schnell zu mir zurück!
    Alles Liebe
    Eva
     
    Hughes legte den Brief behutsam zu den anderen und nahm den ganzen Stapel mit hinauf in sein Arbeitszimmer, wo er ihn schweren Herzens in seinen Schreibtisch einschloss. Den Schlüssel steckte er in die Tasche.
     
    Er erzählte niemandem von dem Vorfall und versuchte das Ganze im Lauf der folgenden Tage zu relativieren. Der Junge ist völlig durcheinander, da ohne eine echte Vaterfigur, und agiert dieses Verwirrtsein aus, sagte er sich. Ed war noch ein Kind und steckte gerade in einer Phase des Erwachsenwerdens, die eben sonderbar, wenn nicht sogar leicht unnormal war. Alles würde gut werden. Hughes fuhr zurück in die Stadt und zu seinen gemütlichen Nachmittagen und den nächtlichen Stunden im Arbeitszimmer. Aber er dachte immer wieder an Frank und das Hausmädchen, an die Briefe und an Nick.
     
    Im Haus klingelte das Telefon. Hughes erreichte die Eingangstür und stieß den Schlüssel ins Schloss. Mit pochendem Herzen sprang er die Treppe hoch und lief in die Bibliothek. Er nahm den kalten schwarzen Hörer ab.
    »Hallo?«
    »Hughes, Gott sei Dank!« Es war Nick.
    »Was ist denn? Was ist

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