Zeit der Raubtiere
passiert?«
»Es geht um Daisy. Ed und sie haben eine Leiche gefunden.«
Hughes lehnte sich an die Wand und drückte die Hand auf die Brust.
»Verdammt noch mal, sie hat die Leiche gesehen, Hughes!«
»Und wer ist es?« Er hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
»Das weiß man noch nicht genau. Manche sagen, es könnte irgendeine Hausangestellte sein, eine von den Portugiesinnen wahrscheinlich.«
»Die Hausangestellte von wem?«
Aber er wusste ja, wer sie war. Er musste sich nichts mehr vormachen.
Dezember 1944
D ie Feiertage waren vorüber, aber im Bahnhof war noch ein Nachhall des Weihnachtstrubels zu spüren. Man konnte beinahe den Kiefernduft riechen. Die Menschenmassen wälzten sich an Hughes vorbei, bewegte Bilder der Erwartung. Eine hübsche britische Marineangehörige in einem grauen, unten mit Glöckchen bestückten Mantel bimmelte vorbei und heiterte ihn, wenn auch nur einen Augenblick lang, auf. Er hatte den Zug nach London verpasst und musste sich der deprimierenden Aussicht stellen, einen seiner drei wertvollen Tage Landgang an Bord der Jacob Jones zu verbringen.
Als er auf die Straßen Southamptons hinaustrat, nahm seine Niedergeschlagenheit zu. Die Deutschen hatten die Stadt derart in Grund und Boden gebombt, dass ihr markantestes Merkmal inzwischen aus einer sich vom Bahnhof zu den Hafenanlagen schlängelnden Metallmasse bestand, einer Landschaft aus Schienen, Masten und Kränen. Aus den Gebäuden waren Ruinen geworden, zerklüftete, schwarze, in den Himmel ragende Gebilde. Doch am meisten verstörten Hughes die ins Nichts führenden Treppen, die überall sinnnlos vor den weggesprengten Rückwänden der Häuser standen. Er hatte gelernt, beim Gang in die Stadt den Blick auf den Gehsteig zu heften.
Aber immer noch besser als Le Havre, wo sie gerade eine ganze motorisierte Division ausgeschifft hatten. Die französische Hafenstadt war während ihrer Befreiung so stark zerstört worden, dass die Jacob Jones erst einen Abstecher nach England machen musste, um die Proviantvorräte zu ergänzen, anstatt direkt nach Hause zu fahren.
Hughes ging zum Hafen zurück und schlug den Weg zur Rotkreuzkantine ein. Dort bekam man wenigstens einen Kaffee, der keine lauwarme Brühe war, und vielleicht sogar einen Doughnut, und man konnte sich die Rotkreuzmädchen in ihren blassblauen Overalls anschauen.
Er schien vom Pech verfolgt zu sein, denn drinnen stand eine lange Schlange. Er wollte schon aufgeben und sich ein Pub suchen, als er Charlie Wells seinen Namen rufen hörte.
»Derringer!« Charlie stand in der Mitte der Schlange und bedeutete Hughes, zu ihm zu kommen. »Ich dachte, du sitzt im Zug nach London. Was ist passiert? Wolltest du doch nicht auf die Reize Southamptons verzichten?«
»Ich habe den verfluchten Zug verpasst«, sagte Hughes, ohne auf die hinter ihm über den Vordrängler schimpfenden Männer zu achten.
»Ah, dann kannst du ja mit den Jungs und mir ausgehen. Da lernst du vielleicht noch was.«
»Scher dich zum Teufel.«
»Ha!« Charlie schlug ihm auf den Rücken. »Sei nicht so empfindlich! Na komm, wir müssen mal ein paar Haare auf deine Brust kriegen. Irgendwann hole ich dich schon raus aus deinem steifen Kragen.«
Hughes war nicht in Stimmung für Charlie. Eigentlich war er in letzter Zeit für fast nichts in Stimmung. Seit drei Monaten hatte er Nick nicht mehr gesehen, und Weihnachten war eine trübselige Angelegenheit gewesen: an Bord der Jacob Jones, die gleich nach dem Auslaufen aus der Marinewerft in Brooklyn zu schlingern begonnen und bis zum Schluss nicht mehr damit aufgehört hatte, und mit einem tiefgefrorenen Truthahn und einer Cranberrysauce wie süße rote Pisse. Er hatte sie so satt, die elenden zerstörten Städte, die zugigen Häfen und die Seekrankheit, die einfach nicht besser wurde. Als er nach zehn Tagen auf dem Atlantik zusah, wie die Jungs von der Army in Frankreich von Bord gingen, musste er still in sich hineinkichern – sie waren alle grün wie Erbsensuppe gewesen. Aber vielleicht hing das ja auch mit der Aussicht zusammen, mitten im Winter gegen die Deutschen marschieren zu müssen.
»Lieutenant Derringer.«
Hughes drehte sich um und sah Commander Lindsey vor sich stehen. Auch er trug, wie Hughes, seine Ausgehuniform. »Captain.«
»Gut, dass ich Sie treffe. Sie haben doch drei Tage Landgang und fahren nach London?«
»Jawohl, Sir, aber ich habe meinen Zug verpasst und werde wohl erst morgen fahren, Sir.«
»Den Zug verpasst, ach so …«
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