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Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
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hinweg sah sie, dass die Kinder ihnen zulächelten. Alle außer Ed. Sie war froh, dass er nichts vortäuschte. Sie brauchte ihn. Sie hatte den Stein ins Rollen gebracht; jetzt musste ihr Sohn stark und wahrhaftig sein.
    Sie roch Nicks Parfum und dachte an das nasse Laub, von dem sie gesprochen hatte. Wie konnte sie Nick noch immer lieben nach allem, was gewesen war? Sie glaubte, ihr Kopf würde bersten. Sie konnte nicht darüber nachdenken, es war alles zu viel. Sie konnte es nicht ertragen. Deshalb hielt sie einfach nur Nick fest, als wäre es das letzte Mal.

[home]
    Hughes
    Juli 1959
    I
    I m Haus klingelte das Telefon.
    Als Hughes den Augenblick später Revue passieren ließ, hätte er schwören können, das Läuten schon einen Häuserblock entfernt gehört zu haben. Aber vielleicht spielte ihm sein Gedächtnis einen Streich. Ganz klar jedoch erinnerte er sich, dass ihm das Geräusch Angst machte.
    Er war gemächlich durch die Traill Street geschlendert und hatte hin und wieder die Hand durch die duftigen Mückenschwärme gleiten lassen, die in der warmen Juliluft hingen. Es war Spätnachmittag. Nach einem unproduktiven Vormittag auf dem Anwesen eines Mandanten war er früh gegangen und hatte es noch in eine Vorführung von »Laura« im Nickelodeon am Harvard Square geschafft.
    Genau das liebte Hughes so sehr am Sommer in der Stadt: Er konnte die Kanzlei verlassen, ohne dass irgendwer fragte oder sich darum scherte, wohin er ging. Seine Familie war weit weg, auf der Insel, was ihm ein Gefühl der Leichtigkeit verlieh, das er im Alltag nur selten hatte. Er aß gewöhnlich allein in der Küche zu Abend – ein Sandwich oder, wenn ihm nach Kochen war, ein Steak –, ging dann in sein Arbeitszimmer hinauf und las, bis er dort auf dem Einzelbett einschlief. Das Schlafzimmer, das er mit Nick teilte, betrat er nur, um sich umzuziehen.
    Er kam sich dann immer vor wie in einer Geisterstadt. Das Foto von Daisy im Silberrahmen auf seinem Schreibtisch, die Manschettenknöpfe in dem blauen Porzellanschälchen, die perfekt geradegerückten Kissen auf dem Bett, das alles schien zum Leben eines anderen zu gehören. Wenn er sich in dem Raum umsah, fragte er sich manchmal, was ein Archäologe von alldem – von ihm – halten würde. Wie ließe er sich beschreiben? Ein Mann, der seine Schuhe sauber hielt und dessen Socken in Ordnung waren. Ein Mann, der seine Familie liebte. War er das? Im Arbeitszimmer wusste er besser, wer er war, und das beruhigte ihn.
    In letzter Zeit hatte etwas an ihm genagt, ein Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Manchmal meldete es sich auf der Fahrt zur Arbeit oder beim Lesen, und er musste eine Pause machen, bis das Gefühl verging. Er kam nicht darauf, was es war; etwas wie Angst, aber nicht ganz. Es musste mit Nick zu tun haben, mit der Möglichkeit, sie zu verlieren. Aber er hatte sie nicht verloren, obwohl er es sich manchmal ausmalte. Die Vorstellung widerte ihn an wie das Knacken eines brechenden Knochens.
    Und als er das Telefon im Haus klingeln hörte, während er an diesem Sommernachmittag durch seine Straße ging, überkam ihn wieder diese Unruhe, und alle Alarmglocken in ihm begannen zu schrillen.
     
    Angefangen hatte es einen Monat zuvor, in den ersten Junitagen, kurz nachdem Nick und Daisy ihren Sommeraufenthalt in Tiger House begonnen hatten. Er war übers Wochenende gekommen, um das Boot herzurichten. Nachdem er die Star geschrubbt und Rumpf und Takelage der Jolle nach Beschädigungen abgesucht hatte, ging er noch in das Lesezimmer, spielte dort zwei Runden Rommé, trank drei Gin Tonic und blieb länger, als er beabsichtigt hatte.
    Weil er noch immer nicht müde war, beschloss er, zum Hafen zu spazieren, ein bisschen Seeluft zu schnuppern und die Lichter zu betrachten, mit denen Chappaquiddick gesprenkelt war. Am Jachtclub angekommen, ging er hinein, stellte sich ganz ans Ende des Anlegestegs und lauschte dem Brummen der vorbeifahrenden Außenbordmotoren. Er liebte die Insel. Manchmal dachte er darüber nach, ob alles anders gekommen wäre, wenn Nick und er, Nicks Wunsch entsprechend, nach dem Krieg wieder hierhergezogen wären. Er dachte an Nick, die sich jetzt zu Hause vielleicht gerade zum Schlafen fertig machte, an den kleinen Seufzer, den sie immer ausstieß, wenn sie spätabends an ihrem Frisiertisch saß. Er sah wieder auf das dunkle Wasser hinaus und schob den Gedanken beiseite.
    Er nahm die Route über die Simpson’s Lane, weil es die ruhigste war. Es gefiel ihm, dass

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