Zeit der Sinnlichkeit
Stunden der Helligkeit, Abenddämmerung, Dunkelheit und Morgendämmerung hindurch – wahnsinnig geworden war? Konnte es, dachte ich bitter, eine schrecklichere Ermahnung auf Erden geben als die, welche mir der König erteilt hatte? Welches Leidensmaß hatte er, als er die Worte dem Graveur gab, für mich vor Augen gehabt?
Gleichsam als Antwort auf diese Frage befand ich mich kurz darauf mit Ambrose in der dritten Wohnstätte des Whittlesea Hospitals, die sie William Harvey nennen.
Ich habe schon erwähnt, daß jeder, der hier zum ersten Male eintritt, das Gefühl hat, in der Hölle gelandet zu sein. Nur, daß es hier nicht glühend heiß ist. Es ist kühl und dunkel, und ein übler Geruch hängt in der Luft, da es nur ein kleines, vergittertes Fenster gibt und überhaupt keine Kerzen, aus Angst, die Insassen könnten sich an einer offenen Flamme verbrennen oder die Strohmatten in Brand setzen.
Die Leute im William Harvey sind in Geschirren an die Wand gekettet; die königlichen Löwen im Tower haben bestimmt mehr Bewegungsfreiheit als sie. Doch es handelt sich hier um Menschen, die so tief in den Wahnsinn gefallen sind, daß sie, wenn sie nicht in Eisen gelegt wären, Verbrechen wie Unzucht oder Mord begehen oder ihre eigenen Körper verstümmeln würden; wegen der großen Unruhe ihrer Gliedmaßen machen sie wirklich den Eindruck, von einer teuflischen Macht besessen zu sein.
Insgesamt sind hier einundzwanzig Menschen untergebracht: sechzehn Männer und fünf Frauen. Alle haben Narben auf der Stirn, wo ihnen Blut abgelassen worden ist. Dieses und das Anbohren des Schädels (das die Quäker jedoch nicht praktizieren) sind die am meisten gefürchteten Behandlungsmethoden bei Wahnsinn. Ich lief mit Ambrose durch die Scheune, sah einem nach dem anderen in die Augen und mußte daran denken, daß Pearce einmal über solche wahnsinnigen und leidenden Menschen gesagt hatte, »daß sie die einzig Unschuldigen einer Zeit sind, die selbst verrückt ist, weil sie dem Ruhm gegenüber gleichgültig sind«. Ein vertrauter Schauer der Verärgerung über Pearce durchlief mich: Er
ist immer viel zu sehr von der Richtigkeit seiner Äußerungen überzeugt, von denen einige sicher sehr klug und tiefgründig sind, andere aber ganz offensichtlich töricht.
»Glaubst du«, fragte ich Ambrose (der keinen Versuch unternommen hatte, den Bewohnern des William Harvey meinen Namen beizubringen), »daß das Whittlesea diese Menschen heilen kann?«
Er legte mir seine große Hand auf die Schulter.
»Ich glaube, Robert«, antwortete er, »daß sie geheilt werden, wenn Jesus das wünscht. Wir haben auch schon im William Harvey Heilungen erlebt.« Und dann erzählte er mir von jener Frau, die »zwei große Würmer« entleert hatte, eben die Geschichte, die Pearce mir auf dem Weg zum Friedhof in Bidnold, wo er nach Salpeter graben wollte, erzählt hatte, die Geschichte, mit der er mich davon überzeugen wollte, daß Hoffnung töricht ist. Sie war mir seinerzeit nahegegangen, doch jetzt, da ich mich genau dort befand, wo sie sich zugetragen hatte, löste sie in mir einen so tiefen Ekel aus, daß mir die Galle hochkam, und ich glaube, ich hätte mich erbrochen, wenn Ambrose nicht mein Elend bemerkt und die Tür des William Harvey geöffnet hätte, so daß ich in das Licht des feuchten Morgens entfliehen konnte.
An jenem Abend (wie auch an allen darauffolgenden Abenden des Monats, den ich hier bin) verzehrten wir, das heißt die Betreuer vom Whittlesea, ein Abendessen aus Fisch, Gemüse und Brot, das Daniel in der Küche zubereitet hatte, und sprachen über unseren Tag, der für mich sogar noch schlimmer gewesen war als all jene, die ich damit verbracht hatte, Leichname in Padua zu sezieren oder die armen Kranken im St. Thomas zu pflegen.
Bei diesem Abendessen hörte ich plötzlich draußen ein schmerzliches, vertrautes Geräusch: das Wiehern von Danseuse. Natürlich war ich wieder in Versuchung, sofort und auf der Stelle, während ich mich noch abmühte, eine fettige Makrele hinunterzuwürgen, meine Stute zu satteln und wegzureiten. Doch ich tat es nicht. Pearce hatte mich im Auge und schien meine Gedanken lesen zu können. »Robert«, sagte er freundlich, »wenn du nachher zu unserer Zusammenkunft in unsere Wohnstube kommst, versuche doch, alle alten Sehnsüchte aus deinen Gedanken zu verbannen, so daß du mit den Worten Christi erfüllt werden und durch Ihn zu uns sprechen kannst.«
»Ja, John«, sagte ich, »ich will es
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