Zeit der Sinnlichkeit
versuchen.«
Vor den Zusammenkünften holen die sechs Betreuer (und jetzt auch ich, der siebte) Lampen und machen ihre Runde durch die drei Irrenhäuser, wobei wir »gütig« sind. Unser Verhalten jeden Abend läßt mich an das von König Heinrich vor Agincourt denken, nur daß wir die Geisteskranken nicht ermahnen, am nächsten Tage tapfer zu kämpfen, sondern versuchen, ihre Seelen zur Vorbereitung auf den Schlaf zu besänftigen. Wir sagen ihnen, daß Christus in ihnen wohnt (»so sicher«, hörte ich Pearce sagen, »als ob er selbst das Blut ist, das in einem Kreislauf aus eurem Herzen heraus- und wieder in es hineinfließt«) und sie daher alle in der Nacht behütet sind.
Dann werden die Strohmatratzen ausgebreitet, und die Bewohner des George Fox und Margaret Fell legen sich darauf und decken sich zu, jeder mit einer eigenen grauen Decke. Dann sprechen wir noch ein Gebet für sie, wünschen ihnen eine gute Nacht und nehmen die Lampen weg, so daß sie in
ihren Reihen im Dunkeln liegen. Doch die Männer und Frauen vom William Harvey werden von unserer »Güte« selten beruhigt, einige können die Nacht nicht vom Tage unterscheiden und wissen erst, was Schlaf ist, wenn sie von ihm übermannt werden. Noch in meinem Zimmer, das sehr klein ist und ein wenig meinem Wäscheschrank in Bidnold ähnelt, höre ich oft das Schreien und Heulen vom Whittlesea.
Während der Nacht, um zwei Uhr morgens, findet eine sogenannte »Nachtbetreuung« statt, die von zwei Freunden gemeinsam durchgeführt wird. Wir wechseln uns mit dieser Aufgabe ab, die erfordert, daß wir im Dunkeln aufstehen und in jedes der Häuser gehen, um uns zu vergewissern, daß keiner der Verrückten verletzt oder krank ist oder versucht, einem anderen etwas Schändliches anzutun. Ich fürchte die Nächte, in denen ich an der Nachtbetreuung teilnehmen muß. Besonders fürchte ich den Anblick von Katharine, wie sie aufrecht dasitzt und ihre Kleider zerreißt. Ich habe eine Salbe aus Safran und Veilchenwurzeln zubereitet und reibe ihr damit die Schläfen ein, doch bis jetzt hat sich keine Wirkung gezeigt. Ich komme nie vor drei Uhr wieder ins Bett (da immer jemand krank ist oder getröstet werden muß), und dann bin ich durch meine Tätigkeit so hellwach, daß ich nicht wieder einschlafen kann. Das ist dann die Stunde, in der ich an Celia denken muß. Ich frage mich, ob sie noch meinen Namen trägt und sich Lady Merivel nennt. Schläft Lady Merivel zu dieser Stunde oder singt sie – was ich annehme – ihren Gästen in den hellerleuchteten Räumen in Kew vor?
Bei meiner Ankunft hier im Whittlesea unternahm ich ein paarmal den Versuch, vor Pearce meine Liebe zu Celia zu rechtfertigen, indem ich sie als eine großzügige Liebe beschrieb,
eine Liebe, die »nützlich« gewesen sei, wie der König es gewollt habe. Er stimmte darin nicht mit mir überein. Er behauptete, ich mache mir etwas vor. »Es war eine maßlose Liebe«, sagte er und klärte mich, indem er sich auf Plato bezog, darüber auf, daß »die Maßlosigkeit der Liebe eine Krankheit der Seele« sei, Worte, die ich auf ein Stück Pergament geschrieben, um meine Oboe gewickelt und in dem Seekoffer verstaut habe, den man mir für die Aufbewahrung meiner weltlichen Güter gegeben hat.
Mein Geist scheint sich bei den Zusammenkünften der Freunde am besten zu erholen; warum das so ist, ist mir allerdings noch nicht ganz klar. Ich nehme schweigend daran teil. Im vergangenen Monat habe ich mich nicht ein einziges Mal bewegt gefühlt – durch Gott oder sonst eine Stimme in mir –, irgend etwas zu sagen. Manchmal äußern auch die anderen sehr wenig, und wir sitzen nur in einem Halbkreis vor dem Feuer.
Es ist schon seltsam genug, daß ich solche ausgedehnten Schweigephasen überhaupt ertragen kann, aber noch seltsamer, daß ich Kraft daraus ziehe. Am Anfang war ich bei den Zusammenkünften noch sehr unruhig, wartete ungeduldig auf ihr Ende und fühlte, wie meine Gedanken den Raum verließen und zu verlorenen Orten flogen. Eines Abends reichte mir Ambrose ein Blatt Papier und forderte mich auf, die Worte, die darauf standen, vorzulesen. Sie lauteten: »Sei ruhig, damit du den Sommer erreichst und nicht im Winter fliegen mußt. Denn wenn du still dasitzt, schenkt Gott dir Geduld und innere Ruhe.« Von diesem Augenblick an versuchte ich wirklich, ruhig zu sein und die Ruhe nicht zu verabscheuen, sondern zu lieben, und von da an ging es mir bei den Zusam
menkünften besser, und am Ende fühlte ich
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