Zeit der Sinnlichkeit
bei seiner Box auf, da seine Todesarten so genial sind, daß davon nun wiederum meine Phantasie erquickt wird. Natürlich ist mein Tun höchst merkwürdig. Doch frage ich mich, ob es nicht sogar viele Männer feiger Veranlagung gibt, die sich heimlich danach sehnen, jenem anderen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, der bereit wäre, ihnen sofort, ohne viel Federlesens und ohne viel nachzudenken, das Leben zu nehmen. Ist es dann so ungewöhnlich, wenn man froh ist, ihn gefunden zu haben?
Piebald, mein Erlöser
An diesem Abend nahm ich nach der Zusammenkunft ein Blatt Pergamentpapier mit in mein Zimmer und schrieb darauf in Schönschrift diese gotteslästerlichen Worte.
Am Morgen des 21. April, als ich wieder einmal eine Weile im Whittlesea geblieben war, um Piebald zuzuhören, und dann von dort auftauchte und sah, daß Pearce mit einem Butterblumenstrauß vor der Nase über den Freilufthof ging, kam mir plötzlich der Gedanke, daß wir zwei vielleicht selbst verrückt würden und daß man in unserem Verhalten – meinem im Hinblick auf Piebald, seinem im Hinblick auf die Blumen – schon das erste Krankheitsstadium erkennen konnte. Kaum hatte ich diese Möglichkeit ins Auge gefaßt, als ich auch schon über eine Wahrheit im Zusammenhang mit dem Schicksal der Geistesgestörten stolperte, die bis dahin nicht nur mir, sondern, wie ich glaube, allen Betreuern im Whittlesea verborgen geblieben war. Es handelt sich um folgende:
Ein Mensch, der krank am Körper ist, wird beim ersten Anzeichen oder im ersten Stadium dieser Krankheit die Dienste eines Arztes in Anspruch nehmen, der ihn heilen soll; der Geisteskranke hingegen wird erst dann in ein Irrenhaus oder eine Heilanstalt eingewiesen, wenn die »Krankheit« seines Geistes bereits so weit fortgeschritten ist, daß sie vielleicht schon nicht mehr geheilt werden kann. Mit anderen Worten: einer physischen Erkrankung kann früh genug Einhalt geboten werden, einer Geisteskrankheit nie. Der Grund dafür ist einfach der, daß alle Menschen die ersten Stadien einer Krankheit des Körpers kennen – doch wer kann in jedem einzelnen Falle schon sagen, was die ersten Stadien einer Krankheit des Geistes sind?
Obwohl es fast Zeit fürs Mittagessen war und der Suppenduft aus der Küche in mir ein Hungergefühl erweckte, zwang ich mich, in mein Zimmer zu gehen, mich auf mein schmales
Bett zu legen und meine neue Erkenntnis sehr genau zu überdenken, wobei ich Fabricius' Motto folgte: »Mäßigt das Sichersein mit Ungläubigkeit.« In Gedanken sah ich den Blick des großen Anatomen auf mir liegen. Beim Mittagessen war ich dann sehr ruhig und nachdenklich, so daß Eleanor mich fragte: »Geht es dir heute gut, Robert?« Ich erwiderte, daß es mir recht gutgehe, daß ich aber an diesem Morgen vieles entdeckt hätte, worüber ich nachdenken müsse. Ambrose sah mich wohlwollend an und bat mich, meine Gedanken mit den sechs Freunden zu teilen, »wenn dir das hilft«. Ich dankte ihm und sagte: »Leider, Ambrose, habe ich so wenig von einem Philosophen an mir, daß es oft vorkommt, daß mein Denken wild um eine anscheinend große Sache kreist, und sobald ich versuche, sie in Worte zu fassen, löst sie sich in Luft auf.« Edmund lächelte. Daniel erhob sich und schöpfte uns eine zweite Portion Suppe in die Schalen. Pearce tupfte sich mit einer rauhen Serviette seinen schmallippigen Mund ab und warf einen verächtlichen Blick in meine Richtung. (Es ist ein beschämendes Faktum meines Lebens im Whittlesea, daß Pearce sich, ganz gleich, welcher Stimmung ich bin, mir gegenüber so benimmt, als könne er Gedanken lesen, als wüßte er immer genau, woran ich denke.)
Am Nachmittag waren die Frauen vom Margaret Fell mit ihrem eintönigen Spaziergang um die Eiche an der Reihe. Hannah und ich waren ihre Aufseher, und unsere Aufgabe war es, Runde um Runde mit ihnen zu gehen und mit ihnen »über Themen zu sprechen, die ihre Herzen erfreuen, wie das Nahen des Frühlings und das Anpflanzen von neuem Kopfsalat und Feuerbohnen im Gemüsegarten des Whittlesea«.
Ich fiel neben Katharine in Gleichschritt und fragte sie, wie die Eiche auf sie wirke, ob sie in ihr etwas Schönes und
Tröstendes sehe, und sie antwortete, sie finde, daß sie »voll eines grünen Todes« sei.
»Was ist das, ›ein grüner Tod‹?« fragte ich.
»Das ist etwas, was in der Natur ist«, antwortete sie, »manchmal in einem Teil davon und manchmal überall.«
»Siehst du ihn auch in Leuten?
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