Zeit der Sinnlichkeit
denen, die von Geburt an geistesgestört seien, eine »Zeit davor« gegeben habe, eine Zeit, in der sie noch nicht irre waren, die von einer Entstehungs- oder Erkrankungszeit abgelöst wurde, in der sich die Geisteskrankheit einstellte, genauso wie alle anderen Krankheiten ebenfalls eine Entstehungszeit haben. »Und müssen wir«, fuhr ich fort, »die wir auch schwer Geisteskranke betreuen, denn nicht alle zugeben, daß eine Besserung oder Heilung bei den Männern und Frauen vom William Harvey viel unwahrscheinlicher ist als bei denen in
den beiden anderen Häusern? Fürchten wir nicht auch jeden Tag, daß ein Insasse des George Fox oder Margaret Fell in ein so unkontrollierbares Stadium des Wahnsinns absinkt, daß wir gezwungen sind, ihn in einer Box im William Harvey anzuketten? Wir räumen also täglich ein, daß der Wahnsinn nichts Statisches, sondern – wie alle Dinge auf dieser Welt – etwas Veränderliches ist und sich ebenso zum Besseren wie zum Schlechteren hin entwickeln kann. Doch wir fragen nicht danach, meine lieben Freunde, was in jedem einzelnen Fall von Geistesgestörtheit die Primärstadien waren, mit anderen Worten, wie es zu dem Wahnsinn kam und wann und wie er sich zuerst zeigte. Dabei haben mich bei meinem Studium die großen Kapazitäten auf dem Gebiet der Medizin gelehrt, daß die Heilungsaussichten schlecht sind, wenn nicht jedes Krankheitsstadium und -symptom verstanden wird. Gott hat mir nun offenbart, daß wir bei jedem einzelnen, der in unserer Obhut ist, versuchen sollten, einen Blick zurückzuwerfen und ihn nach seinen Erinnerungen an die »Zeit davor« zu fragen, wie es da gewesen ist und welche Sache oder welches Unglück das Erkrankungsstadium ausgelöst hat. Auf diese Art und Weise entdecken wir vielleicht direkt unter der Oberfläche die Spuren des Wahnsinns, so wie die Spuren vergangener Zeiten unter der Oberfläche der Erde liegen …«
Während dieser langen Rede schenkte ich dem, was die anderen davon oder von mir hielten, keinerlei Beachtung, sondern hatte nur den Wunsch, sie loszuwerden, damit mein Gehirn davon befreit war und mich der Druck der Worte nicht mehr schmerzen konnte. Jetzt machte ich absichtlich eine Pause und atmete ein paarmal tief ein, und wieder stieg mir der Duft der Schlüsselblumen in den Kopf, und abermals begann die Alchimie, und darum fuhr ich fort, machte nun Vor
schläge, die mir alle, wie ich erklärte, »von Jesus Christus gekommen sind«, sagte, daß alle Insassen des Whittlesea von den Betreuern befragt werden sollten, um die »Zeit davor« sichtbar zu machen. Ich war nun von meinen Worten völlig gefangengenommen, als ob sie eine Flüssigkeit geworden seien, in die ich eingetaucht war wie ein ertrinkender Mann in einen reißenden Fluß. Und in diesen strömten nun alle meine fremdartigen und phantastischen Ideen, mein Heilen durch Weinen und Tanzen, meine Vorschläge, Geschichten zu erzählen und Musik zu machen. Während ich über all das sprach, fühlte ich, daß der Schmerz in meinem Kopf barmherzigerweise nachließ, und so hob ich langsam den Kopf und sprach weiter. Ich blickte dabei ins Feuer, und in seinen Flammen sah ich ein höchst wundersames Bild von Daniel, der sommerlich gekleidet die Fiedel spielte, und den Frauen des Margaret Fell, die um ihn herumtanzten und -sprangen und so glücklich wie Kinder zu sein schienen. Und dann verließ mich der Schmerz ganz, das Bild verschwand vor meinen Augen, und ich schwieg.
Mir war es siedend heiß geworden. Ich nahm meine Perücke ab und wischte mir mit meinem Taschentuch über Gesicht und Kopf. Ich fühlte die Augen der anderen auf mir ruhen, aber keiner sprach. Ganze zehn oder fünfzehn Minuten verstrichen, die für die Zusammenkunft vorgesehene Zeit ging um, und Ambrose legte seine Hände zum Gebet zusammen und murmelte: »Wir danken dir, o Herr, daß Robert in unserer Gegenwart zum Sprechen bewegt worden ist.« Mehr wurde nicht gesagt.
Glücklicherweise war ich in dieser Nacht nicht mit der Nachtbetreuung an der Reihe, denn als wir uns von unserer
Runde am Feuer erhoben, fühlte ich, daß meine Knie zitterten und mein Bauch vor Erschöpfung schmerzte. Daher ging ich zu Bett und schlief tief und traumlos bis zum nächsten Morgen.
Doch als ich erwachte, war mir so leicht ums Herz wie noch kein einziges Mal, seit ich von Bidnold vertrieben worden war. Ich konnte mir das nicht erklären, war aber sehr dankbar dafür. (Ich habe in der Zeit, die ich hier bin, über das sogenannte Glück
Weitere Kostenlose Bücher