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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ich mich immer gedrängt, mich vorher bei ihm zu entschuldigen, und oft fühle ich mich versucht
hinzuzufügen (was ich aber unterlasse): »Verzeih mir, denn ich weiß nicht, was ich tue«, denn seit ich im Whittlesea bin, habe ich noch keine Heilung durch Aderlaß erlebt. Wir lassen das Blut nicht nur aus der Stirn, sondern auch aus der Kopfarterie ab, und viele Patienten haben an ihren Armen Wunden, die so oft geöffnet worden sind, daß sie sich nicht mehr schließen wollen. Über den Aderlaß aus der Kopfarterie sagt Ambrose: »In dem hellroten Blut, das wir so ablassen, kann ich den Zorn geradezu riechen!« Sein Glaube an die Medizin ist um nichts geringer als sein Glaube an Christus, und ich weiß, daß er im Hinblick auf beides ein ehrlicher und ehrenwerter Mann ist. Ich habe jedoch noch keine Wunderheilung beim Öffnen der Kopfarterie feststellen können. Die Patienten sind nach dem Einschnitt unweigerlich für einige Stunden ruhig (auch die gewalttätigen), kehren aber schnell wieder zu ihrem früheren Zustand zurück, wobei der Schmerz ihrer Wunden sicher noch ihr sonstiges Leiden verschlimmert. Kurzum, ich stehe den Methoden, die wir hier anwenden, etwas skeptisch gegenüber. Wir vergießen Blut und glauben, mit ihm auch giftige Körpersäfte freizusetzen, wissen aber nicht genau, ob wir das auch wirklich tun. Doch ich sage nichts dazu. Denn es kann mir nichts Gutes daraus ersprießen (bemerkt Ihr den Einfluß der Bibel auf meine Sprache?), wenn ich etwas verdamme, wofür ich nichts Besseres anzubieten habe.
    Ich habe jedoch eine Unzulänglichkeit bei unseren Behandlungsmethoden festgestellt. Sie beruhen auf der unausgesprochenen These, daß der Wahnsinn etwas Flüssiges ist, das entweder Tropfen um Tropfen oder in einem plötzlichen, quälenden Schwall dem Körper entrissen werden kann, entweder in Form von Blut oder Erbrochenem oder Kot. Ich weiß
nicht, ob der Wahnsinn wirklich etwas Flüssiges ist, doch wenn es so ist, dann würde ich alle nur erdenklichen natürlichen und unnatürlichen Methoden ausprobieren, um die Ausscheidungen des Körpers herbeizuführen. Das tun wir jedoch nicht. Ich würde die Geisteskranken zum Weinen bringen (wobei es keine Rolle spielen würde, ob sie vor Lachen oder vor Traurigkeit weinen), und ich würde sie zum Schwitzen bringen. Für ersteres würde ich Geschichten erzählen; für letzteres würde ich Musik machen und sie tanzen lassen. Doch wir fördern weder Tränen noch Schwitzen. Wir sind streng mit denen, die weinen; wir sagen ihnen, sie sollen mit ihrem Klagen aufhören und an Jesus denken, der nie um seiner selbst willen geweint hat, sondern nur wegen der Leiden anderer. Und natürlich wird hier nicht getanzt. Die einzige Bewegung, die unsere Insassen haben, ist das Führen des Webschiffs durch die Kette am Webstuhl, das Drehen der Spinnräder und das langsame Schlurfen über den Freilufthof. Daß zwei wohltuende, natürliche Ausscheidungsmöglichkeiten übersehen werden, beginnt mich langsam so sehr zu bedrücken, daß es immer wieder in mir hochdrängt, inzwischen schon so oft und hartnäckig, daß ich mich vielleicht bald gezwungen sehen werde, Pearces Träumerei über seinen Schlüsselblumen zu stören und ihm meine Gedanken zu diesem Thema zu offenbaren.
     
    Die Nachricht, daß ich einmal am Hofe war, hat die Insassen des William Harvey erreicht. Ich weiß nicht, auf welchem Wege sie dorthin gelangt ist, außer man kann die Hand des Königs noch immer in der Kälte der Skalpellklinge spüren. Pearce meint, daß die meisten im Whittlesea sich an das Wort »Hof« nicht mehr erinnern können und keine Vor
stellung haben, was das ist. Doch es gibt einen, der sich Piebald nennt – ein ehemaliger Meuterer auf der Valiant Queen  –, der jetzt große Freude daran hat, mir zu erzählen, daß alle Männer dieser Welt, die im Rang höher als ein Fähnrich zur See sind, die Überbringer von Pocken, Pestilenz und sonstigem Übel seien und erschlagen gehören – so wie er ganz allein drei Offiziere erschlagen hat –, »um dieses England vom Gestank des Privilegs zu befreien«. Da ich einmal ein »Hofarsch« gewesen bin, gehöre auch ich zu denen, die er töten will, und jede Woche denkt er sich einen neuen grausamen Tod für mich aus, da er Tag und Nacht an nichts anderes als an Tod und Gewalt denken kann.
    Nachts, wenn ich allein in meinem Wäscheschrank liege, habe ich manchmal tödliche Angst vor diesem Piebald. Trotzdem halte ich mich tagsüber recht häufig

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