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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Siehst du ihn jetzt in mir?«
    »Nein«, sagte sie. »In dir sehe ich einen Todeshauch. Doch er ist nicht grün.«
    »Von welcher Farbe ist dieser Hauch denn?«
    Sie blieb stehen und sah mich an, so daß die Frauen hinter uns in uns hineinliefen. Ich ergriff behutsam ihren Ellbogen und führte sie weiter. Ich nahm an, sie würde eine Weile nachdenken und dann meine Frage beantworten, doch das tat sie nicht. Ihre Gedanken hatten dieses Thema wieder verlassen und sich zu dem hinbewegt, was sie Tag und Nacht quälte: das Verlassenwerden von ihrem Ehemann, als sie schlief. Sie fing an, mir zu erzählen – zum zwölften oder dreizehnten Mal –, daß er, wenn er ein kleiner Mann gewesen wäre, nicht weggekonnt hätte, ohne sie zu wecken, daß er aber, weil er so groß war, mit einem Riesenschritt über ihren Körper hatte steigen können. Damit begann sie, ihn nachzuahmen, hob ihre Röcke hoch und machte große, ausladende, ungeschickte Schritte, so daß einige der Frauen stehenblieben, ihr zuschauten, sich über sie lustig machten und auf sie zeigten, als sei sie ein gaukelnder Quacksalber. Ich ließ sie weiterstelzen. Sie nennt diese Nachahmung des Mannes, der sie im Stich gelassen hat, den »Abschiedsschritt«. Sie sagt, jeder Mann auf dieser Welt habe seinen eigenen Abschiedsschritt, und ich versuche oft, ihre Wut zu beruhigen, indem ich ihr zustimme und ihr erzähle, daß der König, der sehr von Narren geplagt wird, von denen er gerne wegwill, seinen
Abschiedsschritt zu einem Gang unübertrefflicher Eleganz vervollkommnet hat. Sie hat mich schon mehrmals gebeten, ihr diesen Gang zu zeigen. Doch ich kann mich nicht dazu überwinden, eine schlechte Imitation des Königs abzugeben.
    Der Tag war strahlend schön und warm, und wir ließen die Frauen länger als die vorgesehene Stunde um den Baum herumgehen. Als Katharine ihres Abschiedsschrittes müde war, kam sie wieder an meine Seite, und nach einer Weile streckte sie die Hand aus, berührte meine Schulter und sagte zu mir, daß die Farbe des Todeshauches, den sie in mir sehe, weiß sei. Hätte sie scharlachrot gesagt, also die Farbe genannt, die auf mich, wie Ihr schon gemerkt haben werdet, eine so große Wirkung hat, dann hätte mich diese Enthüllung beunruhigt. Aber weiß hatte für mich keine Bedeutung, und so dachte ich nicht weiter darüber nach.
     
    Ich wußte nicht, daß es der Abend des 21. April sein würde, an dem ich mein Schweigen bei den Zusammenkünften brechen sollte. Ich war zwar gebannt von der »Wahrheit«, über die ich gestolpert war, daß man nämlich bei Geisteskranken keine Heilung versuchen konnte, bevor sie – wenigstens in den allermeisten Fällen – unheilbar krank waren, hatte aber nicht vorgehabt, über dieses Thema zu sprechen, solange ich mir nicht genau überlegt hatte, welche praktischen Maßnahmen man ergreifen konnte, um eine Besserung dieser Situation herbeizuführen. Noch weniger hatte ich geplant, den Betreuern meine allzu merivelianischen Gedanken über die Wirksamkeit des Weinens und Schwitzens bei der Behandlung von giftigen Körpersäften und Launen zu offenbaren.
    Dennoch brach all das aus mir heraus. Und die Art, wie es geschah, war überaus denkwürdig und seltsam.
    Ich saß am einen Ende des kleinen Halbrunds, das wir bei unseren Zusammenkünften um das Kaminfeuer unserer Wohnstube bilden. Nahe bei mir, auf einem Eichentisch, stand eine Holzschale, in die Pearce Schlüsselblumensträußchen gesteckt hatte. Es herrschte äußerste Stille im Raum, abgesehen vom Knistern und Zischen des Feuers, und eine Quäkerstille hat etwas so Absolutes, als würde die Ewigkeit in diesem Augenblick beginnen.
    In dieser Stille konnte ich hören, wie ich den Duft der Blumen einatmete, und nach einigen Minuten erfaßte mich die Gewißheit, daß dieses Parfüm langsam, mit jedem meiner Atemzüge, in mein Gehirn aufgesogen wurde, wo es sich durch Alchimie in Silben und Worte verwandelte. Schon nach kurzer Zeit schien mein Gehirn so voller Worte zu sein – so vollgestopft mit ihnen wie die Schale mit den Schlüsselblumen –, daß es anfing weh zu tun und ich den Kopf in die Hände legte und auf das Nachlassen des Schmerzes wartete. Doch er ließ nicht nach. Also öffnete ich den Mund und begann zu sprechen, wobei ich mit dem Satz »Mir ist durch Gott der Gedanke gekommen« anfing und dann vollkommen logisch meine Argumente darlegte. Ich sagte, daß der Wahnsinn auf vielerlei Art entstehen könne, daß es aber bei allen, außer bei

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