Zeit der Sinnlichkeit
Häubchens zurück, so daß ich ein paar zarte rote Locken sehen konnte. Ich berührte sie behutsam und fühlte an meiner Hand die lebendige Wärme ihres Kopfes.
Die Nacht verbrachte ich bei Rosie Pierpoint.
Da es Dienstag war und ich am Nachmittag nicht zu ihr gekommen war, hatte ich mir eingebildet, daß sie sich Sorgen um mich machen würde und sich vorstellte, daß ich bei lebendigem Leibe verbrannt oder von einstürzenden Balken zu Tode gequetscht worden sei. Doch als sie mich sah, zeigte sie keinerlei Erleichterung darüber, daß ich noch lebte, ja, sie schien nicht einmal besonders erfreut zu sein, daß ich da war. Sie war nur mit dem Ruß und der Asche beschäftigt, die in die Luft hochgeschleudert worden waren und nun herunterkamen und sich in einer dünnen Schicht über alles legten und jedes Wäschestück, das sie wusch und bügelte, wieder grau werden ließen.
Es war drückend heiß in ihrem Haus. Sie hatte alle Fenster geschlossen und jede Ritze versiegelt; in ihrem Bemühen, »diesen verdammten Ruß« draußen zu halten, duldete sie keinen Luftzug. »Und dennoch kommt der Ruß herein«, sagte sie. »Kaum habe ich ein Bettuch zum Trocknen aufgehängt oder
ein Halstuch zum Bügeln ausgebreitet, da ist er schon da, seht Ihr?« Sie hielt ein paar Teile hoch, um mir die schmutzigen Streifen darauf zu zeigen, warf sie dann wieder auf den Schmutzwäschehaufen und kreischte: »Wie soll ich mit meiner Arbeit fertig werden oder auch nur einen Penny verdienen, wenn das nicht aufhört? Ich werde verhungern, ja, das werde ich! Ich werde eines langsamen Hungertodes sterben – da wäre mir ein schneller Feuertod lieber gewesen!«
Ich nahm sie in die Arme und versuchte, sie mit Küssen zu beruhigen und zu besänftigen, und nach einer Weile begann ihre üble Laune soweit nachzulassen, daß ich ihr sagen konnte, daß ich kein Heim und keine Schlafstelle mehr hatte und ihr eine gute Miete zahlen würde, wenn sie mich aufnähme, bis ich eine neue Bleibe gefunden und mein Leben noch einmal neu angefangen hätte.
Sie entzog sich meiner Umarmung und sah mich fest an, die Hände auf den Hüften.
»Für wie lange?« fragte sie.
»Wie?«
»Wie lange wollt Ihr bleiben? Eine Woche? Einen Monat?«
»Nun«, sagte ich, »das weiß ich noch nicht. Es wird schwierig sein, eine Unterkunft zu finden, denn ich bin nicht der einzige, der eine sucht.«
»Dann brauche ich eine Entschädigung, Sir Robert.«
»Entschädigung wofür?«
Sie seufzte, wandte sich von mir ab und beschäftigte sich mit dem Anzünden einer Lampe.
»Könnt Ihr es nicht erraten?« fragte sie.
Da verstand ich. Rosie war nicht nur zu Wohlstand gekommen, weil die Leute »verrückt nach Waschen« oder dem Parfümieren der Kopfkissenbezüge mit Lavendelwasser gewesen
waren. Nach dem Ableben Pierpoints hatte sie sich bereitwillig wieder in ihre Hureneskapaden gestürzt, und das auf diese Weise verdiente Geld hatte es ihr ermöglicht, Kapaune und Sahne und all die üppigen Nahrungsmittel zu kaufen, ohne die sie nun nicht mehr leben konnte. Ich überlegte, wie seltsam mein Verstand doch all die Jahre gearbeitet hatte, was Rosie Pierpoint betraf. Ich hatte von Anfang an gewußt, daß sie ein Weibsstück und eine Dirne war, doch immer, wenn ich sie brauchte, hatte ich dieses Wissen verdrängt, da ich sie mir bei all ihrem Tun lieber allein vorstellte: Wie sie ihrer Arbeit nachging, ihre Mahlzeiten einnahm und sich im Morgengrauen erhob, um ihre kleinen Waschungen vorzunehmen, bei denen ich sie einmal beobachtet hatte. Ich hatte sie nie mit anderen Männern vor mir gesehen. Das war das gleiche, sagte ich mir, wie die Geschichte mit der indischen Nachtigall: Ich hatte geglaubt, was ich glauben wollte.
Ich ging zu Rosie hinüber, streckte meine Hand aus und streichelte ihr übers Haar. »Natürlich«, sagte ich, »gibt es eine Entschädigung. Doch jetzt laß uns zu Bett gehen und uns lieben und alles andere aus unseren Gedanken verdrängen – auch den Schmutz und den Ruß.«
Ich fand zwei kalte, luftige Räume über dem Laden eines Lautenmachers auf der Südseite des Flusses. Die Lautentöne stiegen durch die Bodenritzen zu mir auf, in die Länge gezogen, zart und dünn.
Herbstregen fiel auf die geschwärzte Stadt, machte aus der Asche eine klebrige Masse und ließ den Fluß anschwellen, so daß alle halbverbrannten Kais losbrachen und auf dem Wasser zum Meer trieben. Ich blickte aus meinen hohen Fenstern und versuchte in Gedanken, London so
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