Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
uns jemand nasse Tücher bringen könnte, die wir uns vors Gesicht binden …«
    »Nein, Sir. Es geht wirklich nicht.«
    »Bringt Tücher! Ich brauche Wasser und ein Tuch!«
    »Ihr werdet sterben, Sir. Ihr werdet in der Tat umkommen.«
    »Wir müssen nach ihr rufen und schreien!«
    »Das hilft nichts. Sie ist stocktaub.«
    »Taub?«
    »Stocktaub. Wie mein Schwanz bei der Sonntagspredigt.«
    Ich sah sie vor mir, wie sie in ihrer Stille ordentlich und gerade im Bett lag, so wie meine Mutter immer darin gelegen hatte, und unten im Arbeitszimmer waren all die Schachteln mit Knöpfen und Pappen mit Spitzen und Schubkästen mit Borten, die jeden Augenblick Feuer fangen konnten …
    »Bitte!« schrie ich. »Hol mir doch jemand einen nassen Lappen oder eine nasse Serviette!«
    Ich weiß nicht, wer meinem Rufen Beachtung schenkte. Doch gleich darauf wurde mir ein durchtränktes Tuch in die Hand gedrückt, und ich band es mir, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, vors Gesicht, betrat im Laufschritt wieder das Haus und stürzte zur Treppe; und da hörte ich eine gedämpfte Stimme hinter mir, die sagte: »In Ordnung, Sir. Ich gehe mit. Versucht, nicht zu atmen.«
    Wir tasteten uns die Treppe hinauf. Auf dem Treppenabsatz sahen wir im flackernden Schein der Flammen, die jetzt das Fenster erreicht hatten, eine offene Tür, und eingezwängt zwischen dieser und dem Türrahmen lag mit ausgestreckten Armen die Frau des Kurzwarenhändlers. Wir sahen sie beide im gleichen Augenblick. Ohne kostbaren Atem mit Sprechen zu vergeuden, krochen wir hin, packten jeder eine Hand der Frau und zogen sie zur Treppe. Dann gab mir mein kräftiger Begleiter durch Kopfnicken zu verstehen, daß ich die Hand loslassen solle, und er stand auf, hob die Frau des Kurzwa
renhändlers hoch und legte sie sich wie einen Sack über die Schultern. Ich führte ihn die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße, wo er sie noch dreißig Schritte von dem brennenden Haus wegtrug, bevor er sie auf den Boden legte.
    Während ich noch so heftig hustete und würgte, daß ein Mundvoll Hähnchen aus meinem Magen hochkam und wieder den Weg auf die Londoner Straße fand, kniete ich neben der Frau nieder, drehte sie auf die Seite und wartete, bis sie zu spucken anfing und Luft in ihre Lungen einließ.
    »Sie lebt, Sir, nicht wahr?« fragte der Mann.
    Ich nickte. Dann blickte ich Mrs. Goffe, der Frau des Putzmachers und Kurzwarenhändlers, ins Gesicht und sah, daß sie sehr verhärmte und hagere Gesichtszüge hatte, mit schmalen Lippen und herabhängenden Mundwinkeln, und daß sie in keiner Weise meiner Mutter oder der Frau auf Finns Portrait ähnelte. Doch das machte nichts, denn solcherart waren die Gesichter gewesen, die mich vorangetrieben hatten.
     
    Zwei Frauen kamen zu uns herüber. Sie wickelten Mrs. Goffe in eine Decke und legten sie auf einen Wagen, auf den Säcke und Bettzeug gehäuft waren. Eine von ihnen brachte in einer Schale Wasser und hielt mir eine Schöpfkelle voll davon an die Lippen: Ich trank es. Die Frau des Kurzwarenhändlers sagte kein Wort und schrie nicht einmal auf, als die Flammen ihr Haus verschlangen; sie starrte nur vor sich hin und kaute auf den Spitzenbändern an ihrem Hals herum. Ich fragte mich, ob diese schreckliche Nacht sie wohl in den Wahnsinn treiben würde, so daß ihr Leben nur gerettet worden war, um dann in einer Heilanstalt vergeudet zu werden.
    Ich fühlte jetzt eine starke Müdigkeit in mir aufsteigen und wußte, daß ich nicht weiter versuchen konnte, das Feuer
zu umreiten. Ich würde nach Cheapside zurückkehren und es am nächsten Tag noch einmal angehen. Ich zog meinen Rock an, band Danseuse von ihrem Pfosten los, wo sie voller Angst schwitzend herumtänzelte, und wollte gerade aufsteigen und mich dem Geschiebe von Wagen und Leuten nach Westen anschließen, als eine der Frauen auf mich zukam, mir für meine Hilfe dankte und mich nach meinem Namen fragte, »damit ich ihn morgen in meine Liste derer aufnehmen kann, für die ich bete, Sir«.
    »Nun«, sagte ich, »ich heiße Merivel. Ich bin Arzt. Wenn es Mrs. Goffe nicht bald bessergeht, bringt sie zu mir.«
    Dann überreichte ich der Frau eine meiner kleinen Visitenkarten mit dem Aufdruck R. Merivel. Arzt. Chirurg. , die ich in einer Tasche an Danseuses Sattel aufbewahrte. Sie nahm sie und steckte sie in ihre Schürzentasche.
    »Ich kann nicht lesen, Sir«, sagte sie, »aber ich gebe die Karte Mrs. Goffe, damit sie sich an Euch erinnert.«

Meine Gedanken kehren
zu

Weitere Kostenlose Bücher