Zeit der Sinnlichkeit
übriggeblieben war. Seit ich Galens Theorie der göttlichen Vollkommenheit verworfen hatte, mußte ich
mehr und mehr feststellen, daß mich die Anatomie von Gott wegführte. Meine vergleichenden Studien des uterus bovinae und des uterus humani hatten mir gezeigt, daß die geschlechtsspezifischen Vorgänge der Kuh denen der Frau so ähnlich waren, daß ich mich fragte, ob es nicht ein wesentliches Band zwischen uns und dem Tierreich gab; dies aber würde uns vom Sockel der Göttlichkeit stürzen, auf den sich nicht nur Könige und Herrscher stellten, sondern auf dem auch die abscheulichsten Spitzbuben und Mörder zu stehen meinten. Natürlich hatte ich diese ketzerischen Gedanken für mich behalten, aber als ich sah, wie rasch und auf wie grausame Art meine guten Eltern starben, wie – ohne daß Gott auch nur im geringsten zu klagen schien – ihre Lungen zerbarsten und ihr Fleisch verbrannte, sah ich mich veranlaßt, meinen Austausch mit dem allmächtigen und gütigen Gott zu beenden. Denn sicherlich ist Er weder das eine noch das andere. Wenn Er gütig ist, warum hat er dann eine solch schreckliche Vernichtung über so ehrliche, hart arbeitende Leute geschickt? Und wenn Er allmächtig ist, warum hat Er es dann nicht verhindert? »Nun«, würde Pearce sagen, »Leiden bringt Erlösung, Merivel. Im Todeskampf sind die Sünden von deinen Eltern genommen worden.« – »Sie waren frei von Sünden, Pearce«, erwidere ich. »Am Sonntag gingen sie zweimal zum Gottesdienst. Sie beteten am Morgen und am Abend, wobei sie vor ihrem Bett niederknieten, von dem keiner von beiden je abirrte. Doch sieh mich an! Ich bin voller fleischlicher Begierde, unmäßig im Weintrinken, unehrerbietig in meinen Worten und ein Selbstbetrüger. Warum hat das Feuer nicht mich verzehrt? Warum ist Leiden so willkürlich? Nein, Pearce, das genügt nicht. Wenn es einen Gott gibt, dann ist Er sicherlich grausam. Dann ist es der alte,
schreckliche Gott von Moses, der Gott Abrahams. Aber am logischsten wäre der Schluß, daß es überhaupt keinen Gott gibt.«
Es ist interessant, mit welcher Leichtigkeit ich meinen Glauben aufgab. Alle Liebe, die ich bis dahin für Gott empfunden hatte, schenkte ich nun dem König, der sich revanchierte (nicht wie Gott, der dicke Bischöfe zu seinem Sprachrohr machte und häufig Zuflucht zu langen Perioden rätselhaften Schweigens nahm), indem er über meine Scherze lachte und mir königliche Küsse gab, die für mich unendlich süßer waren als alle Umarmungen, die ich je von Frauen bekommen hatte. Und das Fehlen dieser Freundschaftsbezeigungen war es, was mich in so große Verzweiflung gestürzt hatte, daß ich nun wieder im Dunkel umhertastete, auf der Suche nach meinem verlorenen Erlöser, als wie grausam Er sich auch erweisen mochte.
Dieses Suchen, diese Glühwürmchengebete, die ich in den Sternenhimmel über Meg Storeys Dach hinaufschickte, brachten mir zwar nicht Gott als Tröster zurück, aber sie schickten mir nach einigen Wochen meinen alten Freund Pearce, der auf einem Maulesel in Bidnold ankam. Auf den Maulesel gebunden waren Pearces klägliche weltliche Besitztümer (die ich, ziemlich witzig, wie ich meine, seine »glühenden Kohlen« nenne, gemünzt auf einen verrückten Quäker in Westminster, der eine Schüssel besagter Kohlen auf dem Kopf balancierte und umherzog und die Gecken zur Reue aufrief). Pearce nannte folgendes sein eigen: drei Bibeln, eine Ausgabe seines geliebten De Generatione Animalium von Harvey, verschiedene andere Anatomieschriften einschließlich einiger Werke von Vesalius und da Vinci und Needhams Disquisitio Anatomica De Formato Foetu , einige Federkiele, einen
schwarzen Mantel und Hut, zwei schwarze Kniehosen, einige zerrissene Hemden und Socken, eine Schachtel rostiger chirurgischer Instrumente, einen einzelnen Zinnkrug und eine Suppenkelle aus Porzellan. Diese Suppenkelle war die einzige Hinterlassenschaft seiner Mutter, die in Armut gestorben war, da sie all ihr Geld aufgewendet hatte, um Pearce nach Cambridge zu schicken. Wenn er, was häufig vorkam, melancholischer Stimmung war, drückte er manchmal die Suppenkelle an sich und streichelte mit seinen langen Fingern über ihre kühle Oberfläche, wie ein Lautenspieler, der aus dem toten, ausgehöhlten Holz einen lebenden Ton herauszupft.
Ich muß schon sagen, daß ich mich freute, Pearce zu sehen. Als Will Gates mir sagte, daß ein schwarzgekleideter Mann mit langem Hals auf einem Maulesel die Auffahrt heraufkäme, wußte
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