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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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des erwachenden Flusses bewegend … und ich ließ es gut sein.
    Ich ging vom Tageteszimmer zum Westflügel des Hauses und stieg dort die kalte Steintreppe zum Rundzimmer im Turm hinauf, bei dessen Entdeckung ich so viel Freude empfunden hatte. Der Raum war noch immer leer und unberührt. Ich schaute aus jedem einzelnen Fenster. Ein schmaler Streifen Rot am Himmel kündete den Sonnenaufgang an. Weißer Nebel lag über dem Park und umhüllte das Wild.
    Ich setzte mich unter eines der Fenster. Nun wird er nie benutzt werden, dieser allem Anschein nach vollkommene Raum, dachte ich. Jedenfalls nicht von mir. Denn er ist ganz offensichtlich der Ort, den mein Verstand, so sehr er sich auch bemüht, weder einordnen noch begreifen kann. Er geht über mich hinaus. Ich bin erdgebunden, schwer und unwissend. Das hier wird für immer unerreichbar für mich sein.
     
    Natürlich war es Pearce, dem ich schließlich anvertraute, was Celia im Tageteszimmer gesagt hatte.
    Ich hatte mich bereit erklärt, ihn auf einem seltsamen Gang zu begleiten: Er wollte eine kleine Menge Erde vom Dorffriedhof holen und dieser dann den Salpeter entziehen. Er litt unter anderem an einem Blasenstein und hoffte, diesen mit der Zeit auflösen zu können, wenn er regelmäßig kleine Dosen dieser üblen Substanz schluckte.
    Für das Einsammeln der Erde hatte er einen kleinen Spaten und eine Ledertasche mitgenommen. Aus einer gewissen Ritterlichkeit heraus (Pearce war von seiner anstrengenden Reise durch die Fens noch immer geschwächt) bot ich an, den Spaten zu tragen, und Pearce hängte sich die Tasche um seinen langen Hals, wodurch er noch mehr wie ein Bettler aussah.
    Wir gingen langsam die Auffahrt und dann die kleine Straße zum Dorf hinunter. Ich hatte vor, Pearce nach dem Einsammeln der Erde eine Erfrischung im »Jovial Rushcutter« anzubieten und ihm dabei zu erzählen, was man mir alles an den Kopf geworfen hatte. Es stellte sich jedoch heraus, daß Pearce so langsam ging, daß ich, um nicht zu frieren, reden mußte, und so hatte ich ihm die traurige Geschichte, schon lange bevor wir das Dorf erreicht hatten, erzählt. Ich beendete sie, indem ich den Spaten in meiner Pein heftig in hohem Bogen von mir schleuderte.
    Pearce sah mich an. In seinen großen Augen entdeckte ich wohl einen kleinen Schimmer Mitleid, doch er ging noch eine ganze Weile schweigend weiter, während ich den Spaten zurückholte. Ich begann mich gerade zu fragen, ob ich mit meiner Geschichte noch einmal von vorn beginnen sollte, dieses Mal, indem ich mich alle paar Sätze vergewisser
te, daß er mir auch zuhörte, als Pearce sich räusperte und sagte:
    »Wenn ich mir auch darüber im klaren bin, daß es nicht sehr zeitgemäß ist, so bin ich doch davon überzeugt, daß alles, auch die Geisteskrankheit, der Heilung zugänglich sein kann.«
    »Wie?« fragte ich.
    »Man hat seit undenklichen Zeiten geglaubt, daß die Wahnsinnigen von Teufeln besessen und daher voll des Bösen sind. Dieses Böse, das ist die generelle Meinung, muß aus ihnen durch schwere Züchtigung, Folter und alle nur vorstellbaren Arten von Mißhandlung herausgeprügelt werden …«
    »Pearce«, sagte ich, »ich bin gern bereit, zu einem späteren Zeitpunkt mit dir über deine Arbeit im Irrenhaus zu sprechen, aber jetzt möchte ich dich doch bitten, deine Aufmerksamkeit meiner seelischen Verfassung zuzuwenden und –«
    »Ich beschäftige mich mit deiner seelischen Verfassung, Merivel. Wenn du mir nur einmal zuhören könntest, anstatt mich so mit Mißachtung zu strafen, dann würdest du sehen, daß ich einige nützliche Gedanken zum Thema habe.«
    Wir gingen weiter. Hinter einer Wolkenbank tauchte jetzt eine blasse Sonne auf und schien gespenstisch auf uns nieder.
    »Laß dir von einer Frau erzählen«, fuhr Pearce fort, »die zu mir ins Whittlesea Hospital – so nennen wir unsere Heilanstalt – gebracht wurde. Diese Frau war halb ertrunken in einem Graben gefunden worden, nachdem sie Monat um Monat und Jahr für Jahr bettelnd und unflätige Worte schreiend durch die Grafschaften gewandert war und ihren Körper, besonders ihre Brüste und Arme, mit spitzen Weißdornzweigen kasteit hatte. Die meiste Freude machte ihrem ar
men, gepeinigten Geist die Herumschmiererei. Sie verwahrte ihren Kot in einem Beutel und besudelte damit die Hände und schönen Kleider derer, die ihr Almosen gaben; sie beschmierte auch Grabsteine und Kirchen. Als wir sie aufnahmen, tobte sie so furchtbar, daß wir gezwungen

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