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Zeit der Sinnlichkeit

Zeit der Sinnlichkeit

Titel: Zeit der Sinnlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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waren – obwohl ich das nicht gerne sehe –, sie an die Mauer zu ketten. Mehrere Wochen lang kämpfte sie Tag und Nacht mit den Ketten, so daß ihre Handgelenke und Knöchel zu nässenden Wunden wurden, ganz gleich, wie sorgfältig wir sie mit Tüchern verbanden. Kannst du dir langsam ein Bild von dieser Frau machen, Merivel?«
    »Ja, danke, Pearce«, sagte ich.
    »Also gut. Dann will ich dir jetzt von dem Morgen berichten, an dem ich zu dieser Frau kam und sie endlich ruhig vorfand. Sie saß zusammengekauert, mit angezogenen Beinen, in einer Ecke und war ganz ruhig. Als ich eintrat, hob sie einen Arm und zeigte auf zwei große Haufen, die sie auf den Boden entleert hatte. Ich legte keinen besonderen Wert darauf, mir diese anzusehen, aber sie zeigte so beharrlich darauf, und der Wandel in ihrem Verhalten war so auffällig, daß ich tat, was sie wollte. Und als ich näher kam, sah ich, daß sich in den Stuhlhaufen zwei große Würmer wanden, jeder einige Zoll lang, sehr weiß und widerlich. Dann sah ich wieder zu der Frau hin, die jetzt weinte. Ich machte sie von den Ketten los, und wir brachten sie weg und wuschen sie und legten sie in ein sauberes Bett. Von diesem Tage an war sie ruhig und erzählte uns von ihrem Zuhause, als sie noch ein Kind gewesen war, und von ihrem Baby, das in der Obhut ihrer Schwester war, und wir wußten, daß sie geheilt war. Die Würmer hatten ihr Blut vergiftet, und dieses vergiftete Blut war in ihr Gehirn gelangt. Sie war nicht böse, Merivel. Sie war
krank. Zu ihrem Glück hatte ihr Körper schließlich selbst die Krankheitsursache ausgestoßen.«
    »Ich freue mich für sie«, sagte ich ungerührt.
    »Und nun zu dir, mein lieber Freund. Jetzt will ich dir einmal sagen, was meiner Meinung nach geschehen ist. Du bist von einem einzigen Gedanken besessen: Du wünschst dir, daß der König dich wieder zu sich holt und dich liebt. Ohne diese Liebe bist du buchstäblich verrückt vor Kummer. Und mit der Zeit wird diese Verrücktheit Schreckliches in dir anrichten, so daß du, wie die Frau, von der ich dir gerade erzählt habe, ein Besudler wirst. Sicher, du wirst nicht andere mit Exkrementen beschmieren, aber du wirst deinen Haß über sie ausschütten. Es sei denn, du erkennst, daß dein Sehnen nach des Königs Gunst etwas Krankhaftes ist, von dem du dich befreien mußt, wenn du nicht daran sterben willst.«
    Pearce blieb auf der Straße stehen und legte seine knochigen Hände auf meine Schultern. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er fuhr fort:
    »Was heute früh geschehen ist, diese harten Worte, die gesagt wurden, all das kann ich nur heilsam finden, Merivel. Unterbrich mich nicht, sondern hör mir zu! In diesem Wissen, dem Wissen, daß der König dich nie geliebt, sondern nur benutzt hat, was ich schon lange vermutet habe, liegt die einzige Hoffnung für deine Heilung. Denn dieses Wissen muß als die heilsame Ausscheidung der Natur angesehen werden, als der stinkende und faulige Stuhl, der in seiner Übelkeit die noch üblere Ursache des Gifts und des Verfalls mit hinaus- und hinwegträgt – den großen Wurm der Hoffnung.«
    Ich starrte Pearce an. Ich konnte nicht sprechen, so sehr war ich plötzlich von dem Glauben erfüllt, daß das, was er
gesagt hatte, richtig war. Ich konnte nur nicken und immer wieder nicken, so, als wäre ich ein dummer Narr, der die Schellen auf seiner Kappe zum Klingeln bringen will.

Die Tropfen des Königs
    E inige Tage vergingen, in denen sich langsam eine wohltuende Ruhe über meine Seele breitete.
    Als Pearce mir mitteilte, daß er nach Whittlesea zurückkehren mußte, dankte ich ihm mit eben der sentimentalen Überschwenglichkeit, die er an mir so verachtete, dafür, daß er mich noch rechtzeitig davor bewahrt hatte, tatsächlich ein Geisteskranker zu werden. Weiterhin bat ich ihn aufrichtig, mich wieder einmal auf Bidnold zu besuchen, sobald es seine Arbeit erlauben würde. Er erwiderte, er werde für mich beten, und drängte mich, inzwischen zu meinen Medizinbüchern zurückzukehren, »um die Welt des Erwerbs«, wie er es ausdrückte, »durch die Welt des Wissens zu ersetzen«. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, daß ich mich dazu nicht in der Lage fühlte. »Was ich dir versprechen kann, Pearce«, sagte ich, »das ist, daß meine törichten Erwartungen im Hinblick auf alles, was mit dem Königshof zusammenhängt, erloschen sind. Ich erwarte nicht, den König je in meinem Leben wiederzusehen. Wo meine Zukunft liegt, weiß

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