Zeit der Sinnlichkeit
Mund, wobei er die Lippen ein paarmal seltsam verzog, bevor er ihnen gestattete, sich scheinbar zögernd um das Rohrblatt zu legen. Dann bat er mich, genau auf seine Fingertechnik bei der C-Dur-Tonleiter zu achten. Seine Hände schienen sich kaum zu bewegen. Mir fiel auf, daß seine Finger weiß und schlank sind, geradeso, als habe der Knochen auf das Fleisch abgefärbt, während meine eher rot und plump sind. Es ist klar, daß ich nicht zum Oboespieler geschaffen bin. Doch ich beschloß, deswegen nicht den Mut zu verlieren. Schließlich hatte ich mich wegen der Musik – wegen jenes klagenden Liedes auf meiner Hochzeit – von der Medizin abgewandt. Für all die verlorenen Arbeitsjahre schuldete sie mir noch einen Ausgleich.
Dieser erste Unterricht dauerte fast eine Stunde. In dieser Zeit liefen die Glasscheiben des Sommerhauses von unserem Atem an, und ich bekam immer mehr das Gefühl, als seien meine Füße in Eisenschuhe gezwängt, so eiskalt wur
den sie. Hatte ich kleine Fortschritte gemacht? Ich weiß es nicht. Jedenfalls war mir, als diese Unterrichtsstunde zu Ende ging, so kalt, daß es mir auch egal war.
Das ist die Last unserer Erdgebundenheit: Unser Geist schwingt sich zu eisigen Höhen empor, während unser Körper zum heimischen Herd zurückkriecht.
Dégueulasse und seine Familie hatten meine Einladung ohne Zögern angenommen, und so tröstete ich mich (gegen zwei Uhr noch immer ohne Geschenk, denn niemand hatte von meinem Geburtstag die geringste Notiz genommen) mit der Planung meiner Soiree, als ein Junge aus dem Dorf auf einem Maulesel die Auffahrt heraufgeritten kam. Er überbrachte mir eine Nachricht vom Pfarrer in Bidnold, Timothy Sackpole. Ich wurde gebeten, sofort zur Kirche zu kommen.
»Warum?« befragte ich den Jungen.
»Ich weiß es nicht, Sir.«
»Das sieht einem Geistlichen ähnlich, keinen Grund anzugeben!«
»Er hat nur gesagt, daß es sehr wichtig und dringend sei.«
»Das ist kein Grund, Junge. Das ist nur die Ansicht eines Geistlichen!«
Während mein Pferd gesattelt wurde, kam mir der folgende Gedanke: Hatte der eingebildete Sackpole irgendwie herausgefunden, daß an diesem Tage mein neununddreißigstes Lebensjahr heraufdämmerte? Sah er eine göttliche Strafe für diesen dahinstolpernden Wassermann voraus, wenn er nicht noch vor Sonnenuntergang vor einen Gottesaltar gebracht wurde? Da der kürzeste Tag des Jahres gerade erst vorbei war, ging die Sonne wirklich schon unter – daher wohl die angebliche Dringlichkeit. Wenn es mir auch hin und wieder
Spaß macht, an einem Gottesdienst Sackpoles teilzunehmen, bin ich doch nicht so oft in der Kirche, wie ich sollte, da ich es vorziehe, meine Gebete in der Stille meines Zimmers zu Gott zu schicken oder (wie ich es schon beschrieben habe) in Gesellschaft eines Rosinenkuchens. Es war daher ganz gut möglich, daß dieser Geistliche, der auf mich immer einen leicht pikierten Eindruck machte, gerne einen Verweis loswerden wollte, dessen Ton und Wortlaut ich schon hören konnte. Er würde damit beginnen, daß er mich fragte, woran ich an diesem meinem Geburtstag gedacht habe. Ich würde erwidern, daß meine eitlen Gedanken um einen leeren Tisch gekreist seien und daß ich mir vorgestellt habe, wie Celia einen Oboenkasten mit schöner Prägung oder einen hübschen Bilderrahmen darauflegte. Er würde antworten, daß mich solche Gedanken vom Königreich Gottes ausschließen würden …
Aber so sollte es nicht kommen. Als ich am Kirchhof ankam, sah ich im Schein der untergehenden Sonne eine kleine Menschenmenge am Tor und hörte Stimmen und Weinen.
»Was ist denn hier los?« fragte ich den Jungen auf dem Maulesel, doch dieser antwortete nicht, sondern blickte nur mit einer gewissen Beunruhigung auf die Szene.
Während ich vom Pferd stieg, kam Pfarrer Sackpole zu mir herüber.
»Nun«, sagte ich, »was geht hier vor, Pfarrer?«
»Danke, daß Ihr gekommen seid, Sir Robert«, erwiderte Sackpole so höflich, daß sich mein Argwohn verlor, er wolle mir einen Vortrag über meinen fehlenden Glauben halten. »Wir scheinen einen Arzt zu brauchen, und Doktor Murdoch ist nicht auffindbar.«
»Sackpole«, sagte ich, »ich war wohl einmal ein Student
der Medizin, doch habe ich mein Studium nie abgeschlossen. Ich bin nicht in der Lage –«
»Es werden keine besonderen Fähigkeiten von Euch erwartet. Laßt uns ein wenig von diesen guten Leuten weggehen – der Junge hält solange Euer Pferd –, und ich erkläre Euch, was geschehen
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