Zeit der Sinnlichkeit
ist.«
»Versichert mir erst, daß Ihr nicht von mir erwartet, daß ich mich als Lebensretter betätige.«
»Was wir von Euch brauchen, Sir, ist Euer Urteilsvermögen.«
»Mein Urteilsvermögen? Dann laßt Euch von mir sagen, Herr Pfarrer, daß das vielleicht nicht mehr so gesund wie früher ist. Ich neige jetzt sehr zu Irrtümern.«
»Niemand von uns ist unfehlbar, Sir Robert, doch das hier wird sich vielleicht als eine einfache Sache für Euch erweisen. Kommt!«
Ich folgte Sackpole, und wir gingen durch eine kleine Tür in die Sakristei der Kirche. Es war dort dunkel und roch nach Grassamen. Sackpole schloß die Tür und legte seine Hand auf meinen Arm.
»Bei den Dorfbewohnern ist ein entsetzlicher Verdacht aufgetreten«, flüsterte er jetzt, »der Verdacht auf Hexerei.«
»Hexerei? In Bidnold?«
»Ja. Ich will es kurz machen. Die Leute draußen – Ihr habt ja gesehen, daß viele weinten – waren auf einer Beerdigung, die heute mittag stattfand. Die Tote war ein junges Mädchen, Sarah Hodge, noch keine siebzehn Jahre alt, das ganz plötzlich auf schreckliche Art gestorben ist.«
»Auf welche Art?«
»Darauf werde ich gleich kommen, Sir Robert. Uns stellt sich jetzt die Frage: Hatte der Teufel bei Sarah Hodge seine
Hand im Spiel – wie nun einige der Gemeindemitglieder draußen behaupten – oder nicht?«
Ich blickte Sackpole an. Ich sah, daß sich der Geistliche unbehaglich fühlte und daß sein Blick dem meinen auswich. Offensichtlich bereitete er sich darauf vor, mich um etwas zu bitten, was mir auf den Tod unangenehm sein würde; wahrscheinlich sollte ich den Leichnam des Mädchens untersuchen. Ich öffnete den Mund, um dieser Bitte zuvorzukommen, indem ich Sackpole erzählte, daß die letzte postmortem -Untersuchung, an der ich teilgenommen hatte, die einer Riesenkröte im Laboratorium des Königs gewesen sei und daß ich die Spuren, die der Tod auf dem menschlichen Körper zurückließ, nicht mehr richtig interpretieren könnte, doch Sackpole fuhr gebieterisch fort: »Das Ganze ist sehr schwierig«, sagte er, »und –«
Hier hob ich meine Hand und bat den Pfarrer, nicht fortzufahren, bevor er meiner Vermutung, daß ich ein medizinisches Gutachten über einen Leichnam abgeben sollte, widersprochen habe. Zu meiner Überraschung sagte er, daß Sarah Hodges Körper unangetastet im Boden ruhen bleiben solle. Dann erzählte er mir sichtlich nervös und verängstigt (wodurch er das Bild, das ich mir von ihm machte, nämlich das eines unbelehrbar eingebildeten Mannes, etwas ins Wanken brachte) die folgende Geschichte:
Eine alte Witwe – allen als Weise Nell bekannt – sei viele Jahre als Hebamme in der Gemeinde tätig gewesen. Sie war auch Heilerin und Apothekerin, bestellte einen eigenen Kräutergarten und besaß in ihren Händen eine Heilkraft, die ihr aufgrund ihres Glaubens an Gott verliehen worden war. Das jedenfalls behauptete sie. Doch seit einigen Monaten hatte man die Weise Nell nicht mehr in der Kirche gesehen. Sie be
teuerte, daß das Rheuma in ihrem Knie sie von diesem Weg abhalte. Doch die Leute in Bidnold fingen an, Veränderungen in ihrem Verhalten (früher war sie ruhig und still, jetzt machte sie oft einen erregten Eindruck) und an ihren Händen festzustellen, insbesondere fühlten sich ihre Hände ganz anders an. Die Haut war hart und schwielig geworden; wenn sie die Köpfe und Glieder der Leidenden berührte, empfanden diese einen Augenblick lang eisige Kälte. Und es wurde geflüstert: Die Weise Nell ist nicht mehr weise, sie liebt Gott nicht mehr, sondern den Teufel, und die Kraft in ihren harten, kalten Händen ist die Kraft des Satans …
»Ihr müßt wissen«, fuhr Sackpole fort, »welches Entsetzen gottesfürchtige Leute bei dem Gedanken an Hexerei empfinden. Sie kommen dann zu den Geistlichen mit all ihren Geschichten über Teufelswerk, sagen, Soundso ist eine richtige Hexe und das und das ist der Beweis dafür, und darum muß sich eine Verbrennung oder Ertränkung oder was weiß ich für eine schreckliche Verfolgung abspielen. Dabei bin ich der Meinung, daß dies alles sehr schwierig und vielschichtig ist, da sowohl der Beweis der Unschuld als auch der Beweis der Schuld erdichtet werden kann, und ich glaube jetzt, daß in den meisten dieser Fälle nur Gott auf den Grund der Dinge sehen kann. Deshalb hatte ich gehofft, in Bidnold nie das Wort ›Hexerei‹ zu hören. Und ich will es nicht leugnen, daß ich mich vor dem fürchte, was daraus entstehen
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