Zeit der Sinnlichkeit
beherbergen.«
»Man wird sie töten.«
»Oder fortjagen. Ich werde mein möglichstes tun, daß sie fortgejagt wird.«
Es ist jetzt der 28. Januar. Ein kalter, trüber Morgen. Gestern abend bin ich über dem Erzählen der Ereignisse an meinem Geburtstag zu müde geworden, doch heute will ich fortfahren. Ich bin einen Tag älter und, wie ich fürchte, um einiges weiser. Denn ich habe einen Blick in meine Zukunft getan.
Ich wäre viel lieber nach Hause gegangen, um ein wenig zu malen und die Vorbereitungen für meine Abendeinladung zu beaufsichtigen, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als Pfarrer Sackpole zu der niedrigen, strohgedeckten Behausung zu begleiten, wo diese unglückliche Weise Nell ein höchst seltsames Leben im Dämmerlicht führt, so dunkel ist es in ihrem Haus, so niedrig sind die Decken und so winzig die
Fenster. Ich bin nicht groß, aber ich konnte in ihrer kleinen Wohnstube kaum aufrecht stehen. Das ist also eine der vielen Bedrängnisse, dachte ich, denen die Armen ausgesetzt sind: Sie werden von ihren eigenen vier Wänden erdrückt.
Obwohl Sackpole unser Eintreffen mit frohgemuter Stimme ankündigte (befleißigt sich ein Scharfrichter auch eines so jovialen Tones, wenn er einen zum Tode Verurteilten auffordert, seinen Kopf auf den Richtblock zu legen?), konnte ich in dem Schein, der von der einzigen Kerze ausging, doch sehen, daß Nell, die mit vor ihrem Körper verschränkten Armen auf einem Schaukelstuhl saß, entsetzliche Angst vor dem hatte, was nun geschehen würde. Ihre Augen, weit aufgerissen und glotzend wie die einer Bulldogge, sahen flehend zum Pfarrer, und sie murmelte vor sich hin, daß sie nur Gott und dem König diene und nicht wisse, warum Sarah Hodge gestorben sei. In dem Raum hing ein übler Geruch, wie von einem tüchtigen Furz. Ich überlegte, was das sein könnte: War es der Geruch von toten Schwalben oder ähnlichem, was Nell für ihre Heilmittel brauchte, oder aber der Geruch einer ärmlichen Kuttelnmahlzeit, nach der nicht ausreichend gelüftet worden war, oder aber der Geruch der Angst, den es, wie ich wußte, wirklich gab und der durch die Fehl- oder Überfunktion bestimmter Drüsen hervorgerufen wurde?
Ich hatte den sehnlichsten Wunsch, diese Hütte wieder zu verlassen, doch ich wußte, daß man mich nicht gehen lassen würde, bevor ich nicht die Untersuchung vorgenommen hatte, denn vor der Tür zu Nells Hütte drängten sich die Eltern und Brüder der toten Sarah, mit Anschuldigungen und Rufen nach Gerechtigkeit auf den Lippen. Mit ihnen waren noch andere Leute aus dem Dorf gekommen, die alle so unverkennbare Zeichen der Armut und des Elends an sich tru
gen, daß ich mich fragte, ob sie – die heute auf mein Urteil warteten – mich morgen um Sixpence angehen würden.
Ich wollte die Angelegenheit möglichst schnell hinter mich bringen, und so näherte ich mich der Nell und sagte so freundlich wie möglich zu ihr, daß ich ihr nichts vorwerfe, daß ich vielmehr als ehemaliger Arzt von Whitehall (ich sagte ihr nicht, daß meine Patienten Hunde gewesen waren) hier sei, um »mir das kleine Ding an Eurem Hals anzusehen und festzustellen, um was für eine Fleischgeschwulst es sich dabei handelt«.
Nell wandte sich mir zu, so daß ich ihre Hundeaugen sehen konnte, zog ihren Schal hoch und wickelte ihn um ihr Kinn, als wolle sie eine Wunde verbinden. »Sukkubus … Teufelsweib … was sie mich alles nennen! Worte direkt aus der Hölle ihrer eigenen Schädel. Doch Gott kennt mein Herz, und ich habe noch nie in meinem Leben gegen irgend jemanden eine Verwünschung ausgesprochen …« So schimpfte Nell vor sich hin und starrte dabei auf meinen Dachsüberwurf, den ich, ein wenig zu meiner eigenen Überraschung, noch immer trug. Sackpole versuchte wiederholt, die Unschuldsbeteuerungen zu unterbrechen, doch ich bemerkte nun, daß Nell von meinem Pelz so fasziniert war und daß sie das Nachdenken über diesen (und wohl auch über dessen Träger) so ablenkte, daß sie immer langsamer sprach und allmählich die Worte zu ihrer Verteidigung ganz vergaß, so daß sie binnen kurzem, wie ich – richtig – vermutete, überhaupt in Schweigen versinken würde.
Weiter kam ich zu der Überzeugung, daß es mir, wenn ich es nur geschickt anfing, gelingen würde, Nell so weit zu beruhigen, daß ich einen Blick auf ihren Hals werfen konnte, ohne sie mit Gewalt festhalten oder erschrecken zu müssen,
was mir sehr zuwider gewesen wäre. Daher flüsterte ich Sackpole zu, er
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