Zeit der Sinnlichkeit
solle sich ein wenig zurückziehen und die Vorgänge von einer Ecke des feuchten Zimmers aus beobachten, jedenfalls nichts mehr zu Nell sagen, bevor die Untersuchung beendet sei.
Da er zweifellos merkte, daß Nells Angst nachgelassen hatte, kam er meiner Bitte nach. Ich ging zu Nell hin und kniete neben ihrem Stuhl nieder, wobei ich ein Würgen im Hals unterdrücken mußte, da der Geruch ihres Körpers wirklich sehr ekelhaft war.
Linkisch ließ ihre knochige Hand den Schal los, legte sich sehr liebevoll auf die Dachsschnauze auf meiner linken Schulter und begann, den Dachskopf zu streicheln. Ich beobachtete Nell genau. Sie nickte mit dem Kopf, als habe sie etwas wiedererkannt. Lange Zeit sagte ich nichts und rührte mich auch nicht. Neils Hand wanderte zu meiner rechten Schulter und berührte dort die Dachsnase. Als ich ihr wieder in die Augen sah, bemerkte ich, daß die Angst weitgehend von ihr gewichen war. Jetzt, dachte ich, werde ich die Kerze heranholen und sie bitten, den Schal abzuwickeln und den Kopf zurückzulegen, damit ich das Gewächs sehen kann. Doch als ich eben die Hand ausstrecken wollte, um nach der Kerze zu greifen, begann Nell wieder zu sprechen. »Davon habe ich geträumt«, flüsterte sie. »Von einem Mann, der ein Tier trägt. Er war nicht Ankläger, sondern ich seiner.«
Ich sagte nichts.
»Ich seiner«, wiederholte Nell.
»Wessen habt Ihr ihn denn beschuldigt?« fragte ich ruhig.
»Ich weiß nicht mehr«, sagte sie. »Vergessen.«
»Doch er hatte etwas Unrechtes getan?«
Nell nickte: »Etwas Unrechtes. Und deshalb sollte er tief fallen.«
»Er fiel in Euren Träumen?«
»Ja.«
»Aus Gottes Gnade?«
»Aus aller Gnade. Und in die Verwirrung.«
Ich schwieg. Meine Hand war noch nach der Kerze ausgestreckt, doch ich konnte diese einfache Handlung nicht zu Ende führen, so beunruhigt war ich jetzt. Ich konnte Nell auch nicht mehr ansehen. Mein Herz schlug heftig, meine Hände fühlten sich feucht an, und im Mund hatte ich den Geschmack von Galle. Wenn sie in meine Zukunft sehen kann, dachte ich bei mir, dann ist es klar, daß sie eine Macht besitzt. Doch dann gelang es mir, meine Gedanken wieder zu zügeln, wußte ich doch, daß dieses Urteil nur aus Furcht erwachsen war. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, daß es in unserer sterblichen Existenz viele Arten des Verhextseins gibt, wobei Angst vielleicht die schrecklichste und Liebe die andauerndste ist. Nells Urteil über mein Leben machte mir furchtbar zu schaffen, um so mehr, als es mein Geburtstag war. Ein Teil von mir hätte Nell gern weiter befragt, um auch »das Schlimmste zu wissen«, wie man so schön sagt, doch der andere, feigere Teil, wollte gar nichts weiter wissen, da er nicht darauf eingestellt war, tapfer zu sein, sollte sich »das Schlimmste« wirklich als sehr schlimm erweisen. Der Gedanke an einen »Fall in die Verwirrung« war schon erschreckend genug.
In diesem Augenblick hörte ich ein Pochen an Nells Tür und Rufe aus der Menge draußen, und Sackpole, dessen Anwesenheit im Zimmer ich fast vergessen hatte, flüsterte mir eindringlich zu, daß ich »jetzt, sofort, Sir Robert« die Untersuchung durchführen solle.
So rückte ich mit meiner noch immer zitternden Hand das Licht neben Nell und bat sie, mir ihr Mal zu zeigen und mir zu sagen, was es ihrer Meinung nach sei. »Denn es ist Euer Mal, Nell, und Ihr allein wißt, wann es zuerst dort aufgetaucht ist, ob jemand es berührt hat und ob es irgendwelche Absonderungen daraus gibt, und wenn ja, was für welche.«
Doch Nell schwieg und rührte sich nicht. Da das Licht nun auf ihr Gesicht fiel, konnte ich auf ihrer Wange mehrere große Leberflecke oder Warzen jener entstellenden Art sehen, die dem armen Oliver Cromwell, unserem ehemaligen Führer und Commonwealth-Oberhaupt, so viel Kummer gemacht hatten. Es ist medizinisches Grundwissen, daß ein Körper, der einmal davon geplagt wird, häufig zum Nährboden für schreckliche weitere Ausblühungen und Auswüchse wird, so, als würden sie aus Sporen aus sich selbst heraus entstehen wie Pilze, und als Nell schließlich ihren Schal abwickelte, erwartete ich sehr stark, auf ihrem Hals einen weiteren solchen Fleck zu sehen.
Das Gewächs, das sie enthüllte und das unter ihrem Ohr im Bereich der Drosselvene saß, sah aber nicht wie eine Warze aus. Es war von der Größe einer kleinen Münze und von leberbrauner Farbe; die Haut war in der Mitte am stärksten angehoben. Während meiner ganzen Anatomiejahre hatte ich
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