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Zeit der Sternschnuppen

Zeit der Sternschnuppen

Titel: Zeit der Sternschnuppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Ziergiebel
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Bauten in Ninive oder Sumer. Vielleicht nicht einmal mehr Sklaven oder Kebsweiber und Eunuchen. Nein, das wäre nichts für mich. So ist es gut, wie es ist.
Mein Sohn, die Abgeschiedenheit und mein langes Leben gestatten es mir, die Dinge unseres Daseins unvoreingenommener zu überdenken. Es ist nicht zu bestreiten: Mancher unserer alten Götter hat versagt. Ich möchte keine Namen nennen. Auf jeden Fall scheint mir das Leben umfassender zu sein. Deine phantasievolle Erzählung über die erstaunlichen Wandlungen auf der Erde – mag auch nur ein Körnchen Wahrheit darin liegen – hat mich an den Bericht eines Freundes erinnert. Kurz bevor sich mein Schicksal erfüllte, war er als Kaufmann durch Lydia gereist und hatte sich kurze Zeit in Ephesus aufgehalten, einer kleinen, unbedeutenden Handelsstadt – Provinz, kein Vergleich mit Babylon. Jedenfalls lebte in Ephesus ein angesehener Mann von hoher Herkunft. Seine Familie stammte in direkter Linie von König Kodros ab. Dieser Mann, sein Name ist Herakleitos, verkündete erstaunliche Gedanken. Er behauptet – bemühe dich, mir zu folgen, mein Sohn –: Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt, ist also in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehen begriffen. Panta rhei nennt er diesen Gedanken. Hast du von diesem Manne etwas gehört?«
»Ich hörte von ihm, Vater, er gilt auch heute noch als ein weiser Mann. Doch inzwischen kamen viele nach ihm. Kluge Männer und Frauen haben seine Ideen weiterentwickelt…«
»Frauen? Du bist immer zum Scherzen aufgelegt, mein Sohn, das gefällt mir.«
»Denk nur an dein Töchterchen, Vater. Ist Aul nicht gescheiter, als all deine Zeitgenossen es waren?«
»Das will ich meinen«, erwiderte er geschmeichelt, »sie berechnet dir aus dem Kopf eine Mondfinsternis, und das will was heißen bei diesen vielen Jupitermonden. Ja, Aul ist klug; manchmal wünschte ich mir, sie wäre etwas weniger gescheit, denn es ist schlimm, wenn man weniger weiß als die eigene Tochter. Es scheint, daß sie in dir einen Meister gefunden hat. Denn was in all den Jahren auf der Erde geschah, ist ihr so unbekannt wie mir. Du stimmst also dem Herakleitos zu. Dennoch verstehe ich etwas nicht. Man hat den Propheten, von dem du vorhin sprachst, ans Kreuz genagelt und dennoch sein Leben als Zeitenwende gewählt. Das begreife die tote Katze in der Küche. Verkündete zu meiner Zeit jemand, mein Sklave sei mir gleich, so erntete er keinen Ruhm…«
In seiner begreiflichen Neugier, die übrigens auf Gegenseitigkeit beruhte, und in seiner Hilflosigkeit, historische Zusammenhänge und Entwicklungen auch nur zu ahnen, lag etwas rührend Komisches. Wie aber sollte ich mit ihm über ein Problem debattieren, das er nicht erfassen konnte? Ungeachtet unseres Altersunterschiedes ähnelte meine Lage der seinen ein wenig. Verkörperte er von meiner Warte aus die Vergangenheit, so trennte mich von meiner phantastischen Umgebung ein ebenso weiter Weg, den zu begreifen ich bestenfalls meinen guten Willen zeigen konnte. Es liegt mir fern, Auls Vater den guten Willen abzusprechen, doch für ihn waren nicht nur die historischen Zusammenhänge zu kompliziert, er war auch zu sehr in seinem patriarchalischen Denken verhaftet. Überdies ist das rekonstruierende Denken immer einfacher als das konstruktive Vorwärtsdenken.
Das sonderbare Gespräch und mein Abstand von der Erde führten mir die Zusammenhänge unserer Entwicklung deutlicher vor Augen. So tief man auch in den Brunnen der Vergangenheit blickte, die Sklavenhalter, in welchem Gewand und mit welchen Phrasen sie auch immer auftraten, waren sich gleichgeblieben. Die Vor- und Nachfahren des Bil-sar-ussur ähnelten in beängstigender Weise jenen, die heute in den asiatischen und lateinamerikanischen Staaten ihre Sklavenhalterordnung mit bestialischen Methoden aufrechtzuerhalten suchten. Was für ein Weg! Alle Torturen hatte menschlicher Verstand ersonnen, um die Herrschaft des Menschen über den Menschen zu zementieren, als könne er dadurch die ewige Glückseligkeit erlangen. Es reizte mich, ihm von der Inquisition zu erzählen, von der Bartholomäusnacht, von Galileo Galilei und Giordano Bruno, von den barbarischen Feldzügen des Mittelalters im Namen des Mannes, den sie tausendmal ans Kreuz geschlagen hatten, von Auschwitz, Lidice, Vietnam, Son My – und noch immer kein Ende… Doch was nutzte es, ihn damit zu belasten.
Er beobachtete mich, wartete auf Antwort. Bestimmt hatte er mich nicht provozieren wollen, aber

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