Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
fragte Grey und beugte sich vor, um das Tier zu betrachten, das fast neun Zentimeter lang, schwarzglänzend und mehr oder minder oval war und scheußlich lange, zuckende Fühler hatte.
»Nur eine Kakerlake, Sah«, beruhigte ihn Rodrigo und wischte sich mit der Hand über die feuchte, ebenholzfarbene Stirn. »Sie tun Euch nichts, aber sie sind wirklich ekelhaft. Wenn Sie zu Euch ins Bett kommen, fressen sie Eure Augenbrauen an.«
Tom stieß einen erstickten Aufschrei aus. Die Kakerlake, die alles andere als vernichtet war, war durch Rodrigos Schuh nur kurz betäubt worden. Jetzt streckte sie ihre dornigen Beinchen aus, löste sich vom Boden und setzte sich wieder in Bewegung, wenn auch etwas langsameren Schrittes. Grey, dem die Haare auf den Armen zu Berge standen, nahm die Ascheschaufel aus dem Kaminbesteck, hob das Insekt damit auf und warf es zur offenen Terrassentür hinaus, so weit er konnte – was angesichts seines Gemütszustandes ziemlich weit war.
Tom war leichenblass, als Grey wieder ins Zimmer kam, doch er griff mit zitternder Hand pflichterfüllt nach dem Rock seines Herrn … den er allerdings fallen ließ. Er murmelte eine Entschuldigung und bückte sich gerade, um ihn wieder aufzuheben, als er einen unterdrückten Schrei ausstieß, den Rock erneut fallen ließ und zurücksprang. Er prallte so heftig gegen die Wand, dass Grey die Pliesterlatten und den Putz knacken hören konnte.
»Was zum Teufel … ?« Er bückte sich und griff vorsichtig nach dem am Boden liegenden Rock.
»Nicht anfassen, Mylord!«, rief Tom, doch Grey hatte schon gesehen, was das Problem war; eine kleine gelbe Schlange glitt aus den roten Falten hervor und bewegte neugierig den Kopf hin und her.
»Hallo, da bist du ja wieder.« Er streckte eine Hand aus, und wie zuvor ließ die kleine Schlange ihre Zunge über seine Haut huschen, dann schlängelte sie sich in seine Handfläche. Er stand auf und krümmte vorsichtig die Hand.
Tom und Rodrigo standen wie versteinert da und starrten ihn an.
»Sie ist vollkommen harmlos«, beruhigte er sie. »Zumindest glaube ich das. Sie muss mir vorhin in die Tasche gefallen sein.«
Rodrigo gewann allmählich die Fassung wieder. Er trat vor und betrachtete die Schlange, verzichtete aber darauf, sie anzufassen und verschränkte die Hände fest im Rücken.
»Diese Schlange mag Euch, Sah«, sagte er und hob den Blick neugierig von der Schlange zu Greys Gesicht, als versuchte er, den Grund für eine solche Merkwürdigkeit auszumachen.
»Möglich.« Die Schlange war weitergekrochen und hatte sich jetzt um zwei seiner Finger gewickelt, die sie mit bemerkenswerter Kraft zusammenpresste. »Andererseits könnte es auch sein, dass sie gerade versucht, mich umzubringen und zu fressen. Wisst Ihr, wovon sie sich normalerweise ernährt?«
Rodrigo lachte, wobei seine schönen weißen Zähne sichtbar wurden, und sogleich sah Grey ein Bild dieser Zähne vor sich, dieser sanften Maulbeerlippen, die sich … Er hustete heftig und wandte den Blick ab.
»Sie frisst alles, was nicht versucht, sie zuerst zu fressen, Sah«, versicherte ihm Rodrigo. »Wahrscheinlich war es das Geräusch der Kakerlake, das sie hervorgelockt hat. Kakerlaken würde sie jagen.«
»Was für eine bewundernswerte Schlange. Ob wir wohl etwas zu fressen für sie finden können? Um sie zum Bleiben zu bewegen, meine ich.«
Toms Gesicht deutete mit Nachdruck an, dass er nicht bleiben würde, wenn die Schlange blieb. Andererseits … Er richtete den Blick auf die Außentür, durch die die Kakerlake entschwunden war, und erschauerte. Widerstrebend griff er in seine Tasche und zog ein arg zerquetschtes Brötchen hervor, das Schinken und Essiggürkchen enthielt.
Dies legten sie vor der Schlange auf den Boden. Das Tier inspizierte es vorsichtig, ignorierte Brot und Gürkchen, wickelte sich aber vorsichtig um ein Stück Schinken, das sie angestrengt totquetschte, bevor sie ihr Maul erstaunlich weit öffnete und ihre Beute unter allgemeinem Beifall verschlang. Selbst Tom applaudierte, und wenn er auch nicht begeistert über Greys Vorschlag war, die Schlange in der Dunkelheit unter dem Bett wohnen zu lassen, um Greys Augenbrauen zu retten, so äußerte er doch auch keine Einwände gegen diesen Plan. Nachdem sie die Schlange offiziell dort deponiert und dann allein gelassen hatten, damit sie ihre Mahlzeit verdauen konnte, wollte Grey Rodrigo gerade weiter nach der natürlichen Fauna der Insel befragen, als ihm der leise Klang eines Gongs
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