Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
zuvorkam.
»Abendessen!«, rief er aus und griff nach seinem nun schlangenlosen Rock.
»Mylord! Euer Haar ist doch noch nicht einmal gepudert!« Zu Toms fortwährender Bestürzung weigerte er sich, eine Perücke zu tragen, doch diesmal musste er sich zumindest pudern lassen. Nach dem Vollzug dieser hastigen Toilette schlüpfte er in seinen Rock und flüchtete, bevor Tom noch weitere Verschönerungsmaßnahmen vorschlagen konnte.
GANZ WIE ES MR. DAWES VORAUSGESAGT HATTE, erschien der Gouverneur ruhig und würdevoll an der Essenstafel. Jede Spur von Schweiß, Hysterie und Trunkenheit waren verschwunden, und außer einer kurzen Entschuldigung für sein abruptes Verschwinden fiel kein Wort über seinen Abgang von vorhin.
Major Fettes und Greys Adjutant, Hauptmann Cherry, erschienen ebenfalls bei Tisch. Mit einem raschen Blickwechsel vergewisserte sich Grey, dass bei den Männern alles zum Besten stand. Fettes und Cherry hätten körperlich kaum unterschiedlicher sein können, denn Letzterer ähnelte einem Frettchen und Ersterer einem Holzklotz – doch beide waren extrem kompetent, und die Männer mochten sich sehr.
Anfangs wurde nicht viel gesprochen; die drei Männer hatten wochenlang Schiffszwieback und Pökelfleisch gegessen. Sie machten sich mit der Konzentration von Ameisen, die einen Brotlaib vorfinden, über das dargebotene Festmahl her, wobei der Umfang der Herausforderung ihren aufrichtigen Willen nicht beeinträchtigen konnte. Als sich die Abfolge der Gänge allmählich verlangsamte, begann Grey ein Gespräch – sein Vorrecht als ranghöchster Gast und befehlshabender Offizier.
»Mr. Dawes hat mir die Position des Superintendenten erklärt«, sagte er und gab sich dabei einen freundlichen Anstrich. »Wie lange hat Hauptmann Cresswell diese Position schon inne, Sir?«
»Etwa sechs Monate, Oberst«, erwiderte der Gouverneur und wischte sich mit einer Leinenserviette die Krümel von der Lippe. Der Gouverneur war zwar gefasst, doch Grey behielt Dawes im Augenwinkel und meinte, den Sekretär erstarren zu sehen. Das war interessant, er musste sich Dawes noch einmal allein vornehmen und ihn gründlicher zu diesem Thema befragen.
»Hat es vor Hauptmann Cresswell auch schon einen Superintendenten gegeben?«
»Ja … Es waren sogar zwei, nicht wahr, Mr. Dawes?«
»Ja, Sir. Hauptmann Ludgate und Hauptmann Perriman.« Dawes gab sich alle Mühe, Greys Blick auszuweichen.
»Ich würde gern mit diesen Herren sprechen«, ordnete Grey freundlich an.
Dawes fuhr zusammen, als hätte ihn jemand mit einer Nadel in den Hintern gestochen. Der Gouverneur kaute seine Traube zu Ende, schluckte und sagte: »Ich bedaure, Oberst. Sowohl Ludgate als auch Perriman haben King’s Town verlassen.«
»Warum denn das?«, fragte John Fettes unverblümt. Das hatte der Gouverneur nicht erwartet, und er blinzelte.
»Ich nehme an, Major Fettes möchte wissen, ob sie ersetzt wurden, weil sie sich der Unterschlagung oder korrupter Praktiken schuldig gemacht haben«, fügte Bob Cherry kameradschaftlich hinzu. »Und wenn ja – hat man ihnen gestattet, die Insel zu verlassen, statt sich der Strafverfolgung zu stellen? Und falls ja …«
»… warum?«, schloss Fettes zielsicher. Grey verkniff sich ein Lächeln. Sollte jemals der Weltfriede ausbrechen und ihre Armeekarriere ein Ende finden, konnten Fettes und Cherry ihren Lebensunterhalt problemlos als Komödianten auf der Bühne verdienen. Beim Verhör lösten sie bei beinahe jedem Verdächtigen in kürzester Zeit Zusammenhanglosigkeit, Verwirrung und schließlich ein Geständnis aus.
Gouverneur Warren schien jedoch aus härterem Holz geschnitzt zu sein als die üblichen Regimentsmissetäter. Entweder das, oder er hatte nichts zu verbergen, dachte Grey, während er zusah, wie Warren müde und geduldig erklärte, dass Ludgate aus Gesundheitsgründen in Pension gegangen war und dass Perriman Geld geerbt hatte und nach England zurückgekehrt sei.
Nein, dachte er, während er beobachtete, wie die Hand des Gouverneurs zuckte und unentschlossen über der Obstschüssel verharrte. Er hat etwas zu verbergen. Und Dawes ebenfalls. Aber ist es bei beiden aus demselben Grund? Und hat es etwas mit den gegenwärtigen Unruhen zu tun?
Es war gut möglich, dass der Gouverneur selbst Unterschlagung oder korrupte Praktiken verheimlichte – sehr wahrscheinlich sogar, dachte Grey leidenschaftslos angesichts des zur Schau gestellten Silbers auf der Anrichte. Diese Art von Korruption galt – innerhalb
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