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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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sprach gleichmütig, doch Grey spürte Beklommenheit in seiner Stimme. »Er gehört Euch nicht.«
    »Doch«, sagte Grey entschlossen. »Das tut er. Er hat den Berg unter meinem Schutz betreten – und wird ihn genauso wieder verlassen. Es ist meine Pflicht.«
    Die Miene des rundlichen Häuptlings war schwer zu deuten. Niemand in der Menge bewegte sich oder sagte etwas, obwohl Grey aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie sich Köpfe ein wenig wandten, während sich die Menschen schweigend Fragen stellten.
    »Es ist meine Pflicht«, wiederholte Grey. »Ich kann nicht ohne ihn gehen.« Und ließ jede Andeutung aus, dass es nicht seine Entscheidung sein könnte, ob er überhaupt ging. Doch warum sollte Accompong ihm die weißen Gefangenen übergeben, wenn er vorhatte, Grey zu töten oder festzuhalten?
    Der Häuptling spitzte die fleischigen Lippen, dann wandte er den Kopf und sagte etwas Fragendes. Bewegung entstand in der Hütte, aus der Ishmael am Abend zuvor gekommen war. Es folgte eine lange Pause, doch einmal mehr kam der Houngan heraus.
    Sein Gesicht war bleich, und einer seiner Füße war fest mit blutgetränktem Stoff umwickelt. Amputation, dachte Grey mit Interesse und erinnerte sich an den metallischen Hieb in der Höhle, der in seinem eigenen Körper widerzuhallen schien. Es war die einzige sichere Möglichkeit zu verhindern, dass sich das Gift einer Schlange im Körper ausbreitete.
    »Ah«, sagte Grey mit unbeschwerter Stimme. »Dann mochte der Krait mich also lieber, wie?«
    Er meinte, dass Accompong leise lachte, achtete aber nicht besonders darauf. Die blitzenden Augen des Houngan sahen ihn hasserfüllt an, und er bedauerte seinen Scherz, weil er befürchtete, dass er Rodrigo womöglich noch mehr kosten würde, als man ihm schon genommen hatte.
    Doch bei allem Grauen klammerte er sich an das, was ihm Mrs. Abernathy gesagt hatte. Der junge Mann war nicht wirklich tot. Er schluckte. Konnte Rodrigo vielleicht wiederhergestellt werden? Die Schottin hatte nein gesagt – doch vielleicht irrte sie sich. Rodrigo war ja erst seit ein paar Tagen Zombie. Und sie hatte gesagt, dass sich das Gift im Lauf der Zeit auflöste. Vielleicht …
    Accompong erhob scharf die Stimme, und der Houngan senkte den Kopf.
    » Anda «, sagte er finster. In der Hütte war eine stolpernde Bewegung zu hören, und er trat beiseite und schob Rodrigo ins Licht hinaus, wo er stehen blieb und mit offenem Mund und leerem Blick zu Boden starrte.
    »Das wollt Ihr haben?« Accompong wies mit der Hand auf Rodrigo. »Wozu denn? Er nützt Euch doch nichts, oder? Es sei denn, Ihr wollt ihn für das Bett – er wird nicht nein zu Euch sagen.«
    Das fanden alle sehr komisch; die Menschen auf der Lichtung schüttelten sich vor Lachen. Grey wartete, bis es vorüber war. Aus dem Augenwinkel sah er Azeel, die ihn mit einer Art angstvoller Hoffnung beobachtete.
    »Er steht unter meinem Schutz«, wiederholte er. »Ja, ich will ihn haben.«
    Accompong nickte, holte tief Luft und atmete beifällig das Aroma von Maniokbrei, gebackenen Bananen und gegrilltem Schweinefleisch ein.
    »Setzt Euch, Oberst«, sagte er, »und esst mit mir.«
    Grey ließ sich langsam neben ihm niedersinken, und die Erschöpfung pochte in seinen Beinen. Er sah, wie man Cresswell unsanft davonschleifte, ihn dann aber mit dem Rücken an seine Hütte setzte, ohne ihn weiter zu behelligen. Tom und die beiden Soldaten bekamen mit benommenen Mienen an einem der Lagerfeuer etwas zu essen. Dann sah er Rodrigo, der unverändert wie eine Vogelscheuche dastand, und kämpfte sich noch einmal hoch.
    Er ergriff den zerlumpten Ärmel des jungen Mannes und sagte: »Komm mit.« Zu seiner großen Überraschung tat Rodrigo das und wandte sich um wie ein Automat. Er führte den jungen Mann durch die Gaffer hindurch zu Azeel und sagte: »Halt.« Er hob Rodrigos Hand und hielt sie der jungen Frau hin, die sie nach kurzem Zögern entschlossen ergriff.
    »Bitte kümmert Euch um ihn«, sagte Grey. Erst als er sich abwandte, begriff er, dass der Arm, den er festgehalten hatte, mit einem Verband umwickelt war. Ah. Tote bluten nicht.
    Als er an Accompongs Feuer zurückkehrte, erwartete ihn ein Holzteller mit dampfendem Essen. Dankbar ließ er sich erneut zu Boden sinken und schloss die Augen – und öffnete sie erschrocken wieder, als er spürte, wie sich etwas auf seinen Kopf senkte. Er stellte fest, dass er unter der Filzkrempe des zerschlissenen Hutes hervorblickte, der dem Häuptling gehörte.
    »Oh«, sagte er.

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