Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane
Loa zu sprechen, der Euch dort aufsuchen mag. So erfahren wir die Wahrheit, und ich kann entscheiden.«
Einen Moment lang stand Grey da und ließ den Blick zwischen dem fetten alten Mann, Cresswell, dessen Rücken von lautlosem Schluchzen geschüttelt wurde, und Azeel hin und her schweifen, die den Kopf abgewandt hatte, damit man die Tränen nicht sah, die ihr über das Gesicht liefen. Tom blickte er nicht an. Ihm schien kaum etwas anderes übrig zu bleiben.
»Also gut«, sagte er und wandte sich wieder an Accompong. »Dann lasst mich jetzt gehen.«
Accompong schüttelte den Kopf.
»Morgen früh«, sagte er. »Nachts geht Ihr lieber nicht dorthin.«
»Doch, das tue ich«, sagte Grey. »Und zwar sofort.«
»GANZ IN DER NÄHE« war anscheinend ein relativer Begriff. Grey glaubte, dass es fast Mitternacht sein musste, als sie die Quelle erreichten – Grey, der Houngan Ishmael und vier Schwarze, die Fackeln trugen und mit den langen Zuckerrohrmessern bewaffnet waren, die man Macheten nannte.
Accompong hatte ihm nicht gesagt, dass es eine heiße Quelle war. Er sah einen felsigen Überhang und darunter etwas, das wie eine Höhle aussah, aus der Dampf herausschwebte wie der Atem eines Drachen. Seine Helfer – oder Bewacher, je nachdem, wie man es betrachtete – blieben wie auf Kommando in sicherem Abstand stehen. Er sah sie an und wartete auf Anweisung, doch sie schwiegen.
Er hatte sich schon gefragt, welche Rolle der Houngan bei diesem merkwürdigen Unterfangen spielte. Der Mann hatte eine zerbeulte Feldflasche dabei; jetzt zog er den Stöpsel heraus und reichte sie Grey. Der Inhalt des kühlen Blechbehälters roch scharf. Dem sengend süßen Geruch nach roher Rum, dachte er – und zweifellos noch einige andere Dinge.
… Kräuter. Gemahlene Knochen – ein paar andere Zutaten. Doch das Wichtigste – die eine Zutat, die man haben muss –, ist die Leber eines Fugufischs … Es gibt kein Zurück aus diesem Zustand. Das Gift schädigt ihr Hirn …
»Jetzt trinken wir«, sagte Ishmael. »Und dann gehen wir in die Höhle.«
»Beide?«
»Ja. Ich werde den Loa rufen. Ich bin ein Priester Damballas.« Sein Ton war ernst, ohne jede Spur der Feindseligkeit und des Hohns, den er zuvor an den Tag gelegt hatte. Allerdings bemerkte Grey, dass ihre Eskorte sich in sicherem Abstand von dem Houngan hielt und ihn argwöhnisch betrachtete.
»Ich verstehe«, sagte Grey, obwohl das nicht stimmte. »Dieser … Damballa. Er – oder sie …?«
»Damballa ist die große Schlange«, sagte Ishmael und lächelte, so dass seine Zähne kurz im Fackelschein aufblitzten. »Es heißt, die Schlangen sprechen zu Euch.« Er wies kopfnickend auf die Feldflasche. »Trinkt.«
Grey verkniff es sich, »Ihr zuerst« zu sagen, hob die Flasche an die Lippen und trank langsam. Es war sehr roher Rum, süß und beißend, fast wie der Geschmack von überreifem Obst, das kurz vor dem Faulen stand. Er versuchte, jeden Gedanken an Mrs. Abernathys beiläufige Beschreibung des Afile pulvers zu verdrängen – sie hatte schließlich nichts davon gesagt, wie es schmeckte. Und Ishmael würde ihn doch wohl nicht einfach vergiften …? Er hoffte es zumindest nicht.
Er nippte an der Flüssigkeit, bis der Houngan ihm mit einer kaum merklichen Änderung seiner Haltung sagte, dass es genug war, dann reichte er die Flasche an Ishmael weiter, der ohne Zögern daraus trank. Wahrscheinlich hätte ihn das beruhigen sollen, doch ihm wurde unangenehm mulmig zumute, sein Herzschlag dröhnte hörbar in den Ohren, und irgendetwas geschah mit seinen Augen; sein Gesichtsfeld wurde immer wieder schwarz, dann blitzte es kurz, und er konnte wieder sehen, und als er den Blick dann auf eine der Fackeln richtete, war sie von einem Heiligenschein bunter Ringe umgeben.
Er hörte das Klonk der Feldflasche kaum, die auf den Boden fiel, und sah blinzelnd zu, wie der weiß gekleidete Rücken des Houngan vor ihm her waberte. Ein dunkel verschwommenes Gesicht, als sich Ishmael zu ihm umwandte.
»Kommt mit.« Der Mann verschwand im Schleier des Wassers.
»Also schön«, murmelte er. »Nun denn …« Er zog sich die Stiefel aus, öffnete die Knieverschlüsse seiner Hose und zog sich die Strümpfe aus. Dann legte er seinen Rock ab und stieg vorsichtig in das dampfende Wasser.
Es war so heiß, dass er die Luft anhielt, doch er gewöhnte sich innerhalb weniger Momente an die Temperatur und watete durch einen flachen, dampfenden Teich auf den Eingang der Höhle zu. Unter seinen nackten
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