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Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane

Titel: Zeit der Stürme: Vier Highland-Kurzromane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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abgelenkt blickte Roger zu ihr hinüber. Eine Sekunde lang blickte ihr Jerry aus seinen Augen entgegen, und wieder verschwamm die Welt. Doch sie schloss die Augen und nahm einen Schluck Tee, obwohl er kochendheiß war.
    Mutter und Hauptmann Randall hatten sich höflich unterhalten, um ihr Zeit zu lassen, sich wieder zu fassen. Hatte er auch Kinder?, fragte ihre Mutter.
    »Nein«, sagte er mit einem Blick auf den kleinen Roger, den man für wehmütig halten konnte. »Noch nicht. Ich habe meine Frau seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.«
    »Besser spät als nie«, sagte eine scharfe Stimme, und sie stellte überrascht fest, dass es die ihre war. Sie stellte die Tasse beiseite, zog den losen Strumpf hoch, der ihr um den Knöchel hing, und richtete den Blick auf Hauptmann Randall. »Was haben Sie für mich?«, fragte sie, um einen Tonfall ruhiger Würde bemüht. Das gelang ihr nicht; ihre Stimme klang selbst für sie so spröde wie zerbrochenes Glas.
    Hauptmann Randall betrachtete sie vorsichtig, ergriff aber die kleine Schachtel und hielt sie ihr hin.
    »Sie gehört Leutnant MacKenzie«, sagte er. »Ein Orden des MID mit Eichenlaub. Posthum verliehen für …«
    Mühsam lehnte sie sich wieder in ihre Kissen zurück und schüttelte den Kopf.
    »Ich will ihn nicht.«
    »Also wirklich, Marjorie!« Ihre Mutter war schockiert.
    »Und ich hasse dieses Wort. Pos… posth…, sagen Sie das nicht.«
    Sie konnte sich nicht von der Vorstellung lösen, dass Jerry irgendwie in der Schachtel war – eine Vorstellung, die ihr im ersten Moment furchtbar erschien, im nächsten tröstlich. Hauptmann Randall legte die Schachtel hin, ganz langsam, so als könnte sie explodieren.
    »Ich werde es nicht sagen«, sagte er sanft. »Darf ich denn sagen … dass ich ihn kannte? Ihren Mann. Nur ganz kurz, aber ich kannte ihn. Ich bin persönlich damit hier, um Ihnen zu sagen, wie tapfer er gewesen ist.«
    »Tapfer.« Das Wort war wie ein Kiesel in ihrem Mund. Sie wünschte, sie könnte ihn damit anspucken.
    »Natürlich war er das«, sagte ihre Mutter entschieden. »Hörst du, Roger? Dein Vater war ein guter Mann, und er war sehr tapfer. Das darfst du nicht vergessen.«
    Roger beachtete sie nicht, sondern versuchte, von ihrem Schoß zu klettern. Seine Großmutter stellte ihn widerstrebend auf den Boden, und er wankte zu Hauptmann Randall hinüber und hielt sich mit beiden Händen an dessen frisch gebügelter Hose fest – fettige Hände, wie sie sah, voller Sardinenöl und Toastkrümeln. Die Lippen des Hauptmanns zuckten zwar, doch er versuchte nicht, sich von Roger zu befreien, sondern tätschelte ihm nur den Kopf.
    »Na, Kleiner?«, sagte er.
    »Fiff«, sagte Roger mit fester Stimme. »Fiff.«
    Marjorie verspürte den unpassenden Impuls zu lachen, als sie die verwunderte Miene des Hauptmanns sah, obwohl der Stein in ihrem Herzen davon unberührt blieb.
    »Das ist sein neues Wort«, sagte sie. »Fisch. Er kann noch nicht ›Sardine‹ sagen.«
    »Zar … DIEM!«, sagte Roger und sah sie finster an. »Fiffff!«
    Der Hauptmann lachte laut auf, zog ein Taschentuch hervor und wischte Roger sorgfältig die Spucke aus dem Gesicht, bevor er ihm beiläufig auch die schmierigen kleinen Tatzen reinigte.
    »Natürlich, ein Fisch«, versicherte er Roger. »Du bist ein kluger Junge. Und bestimmt auch eine große Hilfe für deine Mami. Hier, ich habe dir etwas zum Abendessen mitgebracht.« Er griff in seine Rocktasche und zog ein Töpfchen Marmelade heraus. Erdbeermarmelade. Marjories Speicheldrüsen verkrampften sich schmerzhaft. Seit der Zucker rationiert war, hatte sie keine Marmelade mehr …
    »Er ist eine große Hilfe«, sagte ihre Mutter standhaft, fest entschlossen, das Gespräch in normalen Bahnen zu halten, obwohl sich ihre Tochter so merkwürdig aufführte. Sie wich Marjories Blick aus. »Ein lieber Junge. Seine Name ist Roger.«
    »Ja, ich weiß.« Er richtete den Blick auf Marjorie, die eine kurze Bewegung gemacht hatte. »Ihr Mann hat es mir erzählt. Er war …«
    »Tapfer. Das sagten Sie schon.« Plötzlich klatschte es. Es war ihr halb eingehaktes Strumpfband, doch bei dem Knall setzte sie sich kerzengerade hin und ballte die Fäuste um den dünnen Stoff ihres Rockes. »Tapfer«, wiederholte sie. »Sie sind alle tapfer, nicht wahr? Jeder Einzelne von ihnen. Sogar Sie – oder etwa nicht?«
    Sie hörte ihre Mutter nach Luft schnappen, fuhr aber todesmutig fort.
    »Sie müssen alle tapfer und nobel und … und … perfekt sein, nicht wahr? Denn

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