Zeit der Wut
lag woanders. Er erinnerte sich. Aber wer waren diese Leute, die an seinen Erinnerungen teilhaben wollten? Und was würde aus ihm werden, wenn er sie zufrieden stellte? Deshalb hatte er sich vorgenommen zu schweigen. Sie sollten wenigstens den ersten Schritt machen.
Dann hatte er nachgegeben. Es geschah an dem letzten Tag, den ihm Lupo zugestanden hatte. Als Fera den beiden schweigenden Wächtern die Anordnung gegeben hatte, den Patienten in den Garten zu führen. Während sie den Rollstuhl an einer Pappelreihe vorbeischoben und sich seine Lungen mit der noch warmen Luft des Spätsommers füllten, hatte Guido vor dem Hintergrund des glasklaren Himmels, der den Sonnenuntergang ankündigte, den kleinen, von dem unverwechselbaren Zypressenhain umrahmten Pfarrhof erkannt. Er hatte sich umgedreht, um den Arzt anzusehen, der ihn mit einer Mischung aus Zuneigung, Ungeduld und Sorge anblickte, und resigniert mit den Achseln gezuckt.
– Sie wissen, was hinter diesem Pfarrhof ist, nicht wahr?
Fera konnte ein besserwisserisches Lächeln nicht zurückhalten.
– Wir haben sie absichtlich hierher gebracht … die vertraute Umgebung hat wesentlich zu Ihrer Genesung beigetragen.
Guido schloss die Augen und gab sich der Erinnerung hin. Hinter dem Pfarrhof lag die Villa Vittoria. Vor langer Zeit war er in diesem Haus glücklich gewesen. Aber hier hatte er auch zu hassen gelernt.
– Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?
– Ich kann Ihnen keine Antwort geben, das würde meine Kompetenzen überschreiten, tut mir leid.
Am Tag darauf waren sie zu zweit gekommen. Eine Frau mit kantigem Gesicht, das im Widerspruch zu ihrem freundlichen, mütterlichen Blick stand, und ein Fünfzigjähriger mit herrschaftlichem Auftreten – Guido witterte sofort den Gestank von Großbürgertum – und mit offensichtlich sizilianischem Akzent, der augenscheinlich das Kommando innehatte.
– Ich werde mich nicht mit langen Vorreden aufhalten. Sie wurden verletzt, während sie ein Attentat auf Kommissar Dantini, den Chef der Kriminalpolizei, verübten …
Guido fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Darum ging es also! Ein Polizist! Sie hatten ihm den Auftrag gegeben, einen Polizisten zu erschießen.
– Wir wollen wissen, wer Ihnen den Auftrag erteilt hat, warum und unter welchen Bedingungen. Mitteilen möchte ich Ihnen auch, dass man versucht hat, sie zu elimieren, während Sie im San-Giuliano-Krankenhaus eingeliefert waren … aber gewiss keiner von uns …
– Ich habe niemanden umgebracht.
Das Gesicht des Mannes hatte sich zu einem nahezu freundlichen Lächeln verzogen.
– Daran besteht kein Zweifel. Wir wissen, wer Dantini erschossen hat. Sagt Ihnen dieses Foto nichts?
Als er das Gesicht Rossanas sah, ballte Guido krampfhaft die Fäuste, um nicht aufzuschreien.
– Also?
– Ich habe nichts zu sagen. Ich möchte einen Anwalt.
– Denken Sie darüber nach. Wir haben keine Eile. Wir werden Sie wieder besuchen.
2.
Salah, der Ägypter, den sie vor einem Jahr in die Moschee an der Via della Bufalotta eingeschleust hatten, hatte gesagt, dass Bruder Hamid immer radikaler wurde.
– Er führt merkwürdige Reden. Und er hat E-Mail-Verkehr mit zwei Marokkanern, die im Norden leben. Meiner Meinung nach bereiten sie etwas vor.
Sie hatten den Informanten bezahlt und – wie Mastino sagte – „ein kleines Theater“ inszeniert. Zwei Abende nachdem Salah ihn verpfiffen hatte, fand Hamid bei seiner Rückkehr in seiner Baracke am Ufer der Aniene die gesamte kampfbereite Truppe vor. Während Marco, Corvo, Rainer und Sottile sich an die Durchsuchung machten, verteilte Perro einige Ohrfeigen und Fußtritte. Man fand jedoch nur Flugblätter mit Hasstiraden gegen den zionistischen Imperialismus, die voller Rechtschreibfehler waren, unterzeichnet von einem sogenannten „Revolutionären Arbeiterzirkel“, und einen Haufen Lumpen. Weder Waffen noch Sprengstoff, und auch keine Pläne, auf denen potenziell „strategische“ Ziele eingezeichnet waren.
– Mit diesem Zeug bringen wir dich in den Knast. Und zwar lebenslang!, schrie Perro und schwenkte die Flugblätter, im besten Fall. Von nun an arbeitest du für uns, Junge. Sonst ab in den Knast, du Scheißterrorist …
– Ich bin kein Terrorist. Ich bin ein anständiger Muslim …
– Ja, ein anständiger Scheißmuslim! Hab verstanden. Möchtest du lieber den Amerikanern ausgeliefert werden? Sobald wir hier draußen sind, setzen wir dich in die erste Maschine nach Guantánamo. Oder sind dir die
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