Zeit der Wut
hohen Backenknochen betonte, dezentes Make-up aufgelegt, kaum Lippenstift, sie trug ein etwas strenges schwarzes Kleid.
– Etwas zu minimalistisch, meinst du nicht?, hatte der Kommandant gesagt.
– Das Üppige überlasse ich gern den Gattinnen deiner Gäste. Die Damen haben ja nicht die geringste Idee, was „Klasse“ bedeutet.
– Natürlich nicht, meine Liebe. Genau deshalb werden sie dich …
– … für unbedeutend halten?
– Im Gegenteil. Für anmaßend.
– Soll ich mich umziehen?
– Nicht einmal im Traum. Genau das erwarte ich von dir.
Seitdem Mastino sie ihm gezeigt hatte – „das ist die Frau des Kommandanten … etwas weniger als eine Ehefrau, aber mehr als eine Geliebte … angeblich ist sie sehr intelligent, auch eine Art Beraterin …“ –, behielt Marco sie ihm Auge. Die königliche Anmut, mit der sie einherschritt, erhellte das schwülstige Ambiente, das von Stuckdecken, Diwanen und Ölgemälden aus der neapolitanischen Schule geprägt wurde. Die mit Juwelen behängten Matronen schluckten, wenn sie vorbeiging, und klimperten noch mehr mit ihren prunkvollen Geschmeiden. Aber sie ging gelassen weiter, triumphierend, wunderschön … bei gewissen glühenden Blicken, die die Männer ihr zuwarfen, fühlte er sich an Tiberio erinnert, einen Anführer der Ultras. Der hatte sich Hals über Kopf in Romina Power, verheiratete Carrisi, verliebt. Nicht die übliche Verehrung für eine Sängerin oder Schauspielerin, sondern eine echte
amour fou
. Er besaß einen Haufen Doku-Material über sie, Magazine, Zeitungen, Fotos und Texte von Websites, jedes Bild aus dem Fernsehen und natürlich alle ihre Schallplatten. Er verfolgte sie auf Schritt und Tritt, und fuhr ihr, sofern das möglich war, nach, hundertmal war er ihr ganz nah gewesen, hatte sich jedoch nie offenbart, begnügte sich damit, die Füße auf den Boden zu setzen, auf dem sie gegangen war, dieselbe Luft zu atmen, und bei den glücklichen Gelegenheiten, bei denen er ihr ganz nahe gewesen war, ihr Parfum einzuatmen. Als ihre unglückliche Tochter in New Orleans im Nichts verschwand, kratzte er das Geld zusammen, um hinzufahren.
„Stell dir vor, ich finde sie und bringe sie ihr zurück!“
Aber Tiberio war mit leeren Händen zurückgekommen. Bei ihrer letzten Begegnung hatte Marco kein Hakenkreuz mehr auf der Brust und war mit Darias Hilfe zur Polizei gegangen. Und Tiberio machte eine Lehre bei einem Installateur in Chievo. Gewisse Leidenschaften sollte man besser nicht mit körperlichem Kontakt verderben, sie lieber unangetastet lassen. Außerdem rief sie aus irgendeinem ungeklärlichen Grund Misstrauen in ihm hervor. Er versuchte ihr aus dem Weg zu gehen, bis er plötzlich neben ihr stand, auf der großen Terrasse, von der aus man auf den Caffarella-Park blickte.
– Guten Abend. Sie sind wohl Marco. Gefällt es Ihnen hier? Fühlen Sie sich wohl?
Die etwas heisere Stimme hatte einen unüberhörbaren ausländischen Akzent. Marco fragte sich, wie sie am Hof des Kommandanten gelandet war. Sie kannte seinen Namen. Was wusste sie sonst noch über ihn? Alissa genoss das Unbehagen des Rekruten. Der Kommandant hatte ihr den „Neuen“ anvertraut. Alissa hatte seine Personalakte gelesen und Mastinos Randnotizen. Sie hielten Marco für einen guten Kauf, auch wenn er noch eine Probezeit absolvieren musste. Alissa war das Loch mitten auf der Stirn nicht entgangen. Marco stank nach Schlägereien, nach Hormonen, nach Unreife und Gewalt. Sie kannte viele wie ihn. Nicht einmal der Anflug von Unentschlossenheit, die zarte Unsicherheit im Blick waren etwas Neues für sie. Typen wie Marco konnten in einem Sekundenbruchteil vom Häufchen Elend zum Mörder werden. Es fehlte ihnen die Fähigkeit, ihre Impulse zu kontrollieren. Deshalb brauchten sie jemanden, der sie führte und in die richtige Richtung lenkte. Noch ein Junge, der vom Heldentod träumte. Der Kommandant wusste sehr gut, wo er Rekruten für seine Truppe fand. Es würde nicht sehr schwierig sein, sich um den Neuen zu kümmern. Und in gewisser Hinsicht konnte es sogar angenehm sein.
– Sind das alles Männer des Kommandanten?
Mittlerweile standen sie im Salon und tranken etwas miteinander. Alissa hatte ihm die Biografien der Gäste und ein paar Tratschgeschichten erzählt.
– Nein. Ein paar sind meine Männer. Oder waren es. Zum Beispiel der Erste links, der Große mit dem Schnurrbart, im Smoking, das ist Walid Kamal. Libanese, Waffenhändler, einer der reichsten Männer der Welt, der
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