Zeit des Aufbruchs
Verbitterung hinter den kleinen Wutanfällen, die ihn beim Reden überfielen. »Ja, ich erinnere mich daran. Ich erinnere mich an meine Landsleute, an meine Freunde, die bei dem Versuch starben, ihre Heimat gegen Armeen zu verteidigen, von denen wir gar nichts wußten, gegen Krieger, die aus Gründen kamen, die wir nicht verstanden. Männer, die nicht um Verhandlungen baten, sondern einfach kamen und unsere Bauern niedermetzelten, unsere Dörfer einnahmen und unsere Städte besetzten. Ich erinnere mich, wie ich gegen dein Volk kämpfte, Mara. Ich hielt sie nicht für ehrenvolle Feinde. Ich hielt sie für mörderischen Abschaum. Ich haßte sie mit jeder Faser meines Selbst.«
Sie spürte, wie ihm angesichts seiner Erinnerungen der Schweiß ausbrach, doch als sie sich nicht abwandte, beruhigte er sich langsam wieder. »Inzwischen habe ich dich, dein Volk kennengelernt. Ich … kann nicht sagen, daß ich bestimmte Dinge bei euch angenehm finde. Aber ich verstehe zumindest ein bißchen von den Tsuranis. Ihr habt Ehre, auch wenn sie sich von unserem Verständnis von Gerechtigkeit unterscheidet. Wir haben auch Ehre, aber ich glaube nicht, daß du das wirklich verstehst. Und wir haben etwas gemeinsam, wie alle Leute. Ich liebe Ayaki, als wäre er mein eigener Sohn. Doch wir sind zwei Menschen, die beide gelitten haben – du durch die Hände meiner Landsleute, ich durch die Hände der deinigen.«
Mara versuchte ihn mit ihrer Berührung zu beruhigen. »Dennoch würde ich nichts ändern.«
Kevin drehte sich in ihren Armen um und blickte hinab in ein Gesicht, in dem Tränen schimmerten – Tränen, die in ihrer Kultur als bedingungsloses Zeichen von Schwäche galten. Sofort war er beschämt. »Du würdest deinen Bruder und deinen Vater nicht retten, wenn du könntest?«
Mara schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich nicht. Dieses Wissen ist das bitterste von allem. Denn wenn ich meinen vergangenen Kummer ändern würde, hätte ich niemals Ayaki bekommen – oder die Liebe zwischen uns.« Hinter ihren Augen verbargen sich andere, dunklere Erkenntnisse: Sie hätte niemals geherrscht und damit auch nie die berauschende Faszination der Macht im Großen Spiel kennengelernt.
Kevin war verblüfft über ihre entwaffnende Ehrlichkeit und spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Er hielt Mara eng an sich gepreßt und ließ zu, daß ihre Tränen sein Hemd benetzten. Er konnte kaum sprechen, als er sagte: »Doch sosehr ich dich auch liebe, Mara von den Acoma …«
Er schob sie ein wenig von sich weg, und sie ließ es geschehen. Ihr Blick war auf seine Augen gerichtet, als sie in seinem Gesicht suchte und die grausame Wahrheit fand, der er sich nicht länger entziehen konnte. Angst legte sich um ihre Gedanken wie eine Klammer, und ein Kummer stieg in ihr auf, wie sie ihn seit dem schicksalhaften Tag nicht mehr gespürt hatte, als sie gezwungen gewesen war, den Mantel der Acoma anzulegen. »Sag es mir«, meinte sie energisch. »Sag mir alles, jetzt.«
Kevin blickte sie gequält an. »Oh, Lady, ich liebe dich ohne jeden Zweifel … und ich werde dich bis zu meinem Tod lieben. Doch ich werde niemals die Sklaverei annehmen. Nicht einmal für dich.«
Mara konnte es nicht ertragen, ihn anzusehen. In diesem Augenblick begriff sie zum ersten Mal die Tiefe seiner Qual. Sie hielt ihn verzweifelt fest und meinte: »Wenn die Götter es so wollten … würdest du mich verlassen?«
Kevin verstärkte den Druck um ihre Schultern. Als wäre sie das einzige Gegenmittel für seinen Schmerz, hielt er sie fest. Trotzdem sprach er aus, was nicht mehr geleugnet werden konnte. »Wenn ich ein freier Mann sein könnte, würde ich für immer hier bei dir bleiben. Doch als Sklave würde ich jede Möglichkeit nutzen, nach Hause zurückzukehren.«
Mara konnte ihr Schluchzen jetzt nicht mehr unterdrücken. »Aber du kannst hier niemals ein freier Mann sein.«
»Ich weiß. Ich weiß.« Er wischte eine feuchte Haarsträhne von ihrer Wange und verlor selbst die Beherrschung bei der Berührung, zerfloß ebenso in Tränen wie sie. Endlich hatten sie ihre tiefsten Wahrheiten miteinander geteilt und erkannt: So heiß und innig sie sich auch lieben mochten, immer würde diese offene Wunde dasein, so unermeßlich wie ein Ozean, so tief wie eine Kluft und so weit wie der Spalt zwischen ihren beiden Welten.
Die Ereignisse in der Heiligen Stadt drehten sich um die bevorstehende Friedenskonferenz. Es waren nur noch wenige Tage bis zur Abreise des Kaisers, und die
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