Zeit des Lavendels (German Edition)
war sie völlig wehrlos, ihm ausgeliefert. Nein, nur nicht daran denken, dass er einmal nicht mehr bei ihr sein könnte. Sie konnte,schon den Gedanken kaum ertragen. Außerdem brachte es Unglück. Angst zog das Unglück an. Und sie brauchte Mut. Gerade jetzt. Brauchte auch Mut, es ihm endlich zu sagen. Es war auch sein Kind, das sie erwartete. Sie hatte sich so sehr gefreut, als es immer mehr zur Gewissheit wurde.
Doch nun würde dieses Wesen in ihrem Bauch, das, was ihre tiefe Vereinigung mit diesem Mann lebendig machte, ihn nur stören. Das spürte sie. Sie wollte ihn nicht noch mehr verärgern. Deshalb schwieg sie weiter. In ihrem Kopf formte sich das Bild der heiligen Familie, die bei Schnee und Wind durch die Lande gezogen war, um einen Ort zu finden, an dem das Christuskind auf die Welt kommen sollte. Weihnachten war nicht mehr allzu fern. Maria hatte in einem Stall entbunden. Dorothea Offenburg hoffte, dass ihr wenigstens das erspart bleiben würde. Dass es warme, helfende Hände geben würde, die ihr in ihrer schweren Stunde beistanden. Es war ihr erstes Kind. Sie wusste nichts über Geburten. Und sie war nicht mehr so jung, nicht wie die Katze in ihrem alten Haus am Rheinsprung in Basel. Die warf ihre Jungen einfach, verborgen in irgendeinem Winkel. Sie hatte viel über die Schmerzen und die Gefahren einer Geburt gehört. Nein, sie wollte nicht allein sein, sondern in den guten Händen einer fähigen Hebamme, die ihr den Schweiß von der Stirn strich und ihre Hand hielt, wenn es schlimm wurde. Die wusste, was zu tun war, falls etwas schief ging.
Wieder trieb der Sturm eine Wolke von Flocken und Eiskristallen über die beiden Menschen und die drei mageren Klepper. Das Packpferd schien noch die meiste Kraft zu haben. Das Schneegestöber war jetzt so dicht, dass sie nur wenige Fuß weit sehen konnten. Außerdem wurde es langsam dunkel. Thomas Leimer beobachtete seine Begleiterin. Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Manchmal schwankte sie schon vor Müdigkeit auf ihrem Pferd. Sie musste doch bald einsehen, dass es das Beste für sie war zurückzubleiben. Doch bislang hielt sie eisern durch. Nun, sie würden die nächste Herberge bald erreichen. Vaduz war nur noch eine gute Stunde Ritt entfernt.
Plötzlich stieß Dorothea Offenburg einen Schrei aus. Sie ließ die Zügel fahren und griff sich an den Unterleib. »Thomas, hilf mir. Mein Gott, das Kind, ich verliere das Kind!«
Thomas Leimer zügelte sein Pferd so hart, dass es stieg. »Was sagst du da«, brüllte er fassungslos. »Kind? Welches Kind? Du willst mir doch nicht sagen, dass du ...?«
Dorothea nickte schwach.
»Gott, verflucht sollst du sein. Was sollen wir jetzt mit einem Kind? Warum hast du nichts gesagt, Weib? Bist du wahnsinnig? Der Teufel soll dich holen. Das geschieht dir recht. Du machst nichts als Schwierigkeiten.«
Dorothea schluchzte hemmungslos. Die krampfartigen Schmerzen in ihrem Unterleib wurden immer schlimmer. Wie Wellen brachen sie über sie herein. Doch sie wusste nicht, was schlimmer war. Die Worte ihres Mannes oder die Pein in ihrem Bauch. Fast besinnungslos brach sie über dem Pferd zusammen.
Thomas Leimer war wie vor den Kopf gestoßen. Dieses vermaledeite Weib! Ein Kind! Nicht zu fassen. Als ob die Situation nicht schon schlimm genug wäre. Eine weitere Windböe jagte Eis über Menschen und Pferde hinweg. Leimer konnte kaum noch atmen in dieser Schneehölle. Für ihn war es wie eine Bestätigung seiner Gefühle. Wem nützte es schon, wenn sie alle hier starben? Am besten überließ er sie ihrem Schicksal. Einen schlechteren Zeitpunkt für ihre Weiberprobleme hätte sie sich wirklich nicht aussuchen können. Als ob sie sich bewusst seinen Plänen in den Weg stellen, ihn mit immer festeren Fesseln an sich ketten wollte. Aber da hatte sie sich getäuscht. Nun war Schluss!
Er griff nach den Zügeln des Packpferdes. Niemand würde nach ihr fragen. Niemand würde sie vermissen. Wütend drückte er seinem Klepper die Hacken in die Weichen. Das müde Pferd machte einen Satz nach vorne. Energisch nahm er es zwischen die Schenkel, trieb es nach vorne. Er würde weiterkommen. Er würde überleben. Mochte sie doch verrecken im Schnee. Es würde ohnehin nicht lange dauern. Erfrieren war ein sanfter Tod. Wieder hieb er dem Pferd die Stiefel in den Leib und zerrte an den Zügeln des Packpferdes. Widerstrebend setzten sich die beiden Gäule in Bewegung. Bedauernd blickte er zurück auf das Pferd von Dorothea. Nun, er würde es ihr
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