Zeit des Lavendels (German Edition)
beeindruckende Prozession. Im Leben hatten die Menschen den offenen Kontakt mit Nele gescheut. Doch wenigstens im Tod erwiesen sie ihr die Reverenz.
Pfarrer Andreas Diemer traute seinen Augen kaum, als er auf den Friedhof kam. Eine riesige Menschenmenge hatte sich zu diesem Begräbnis versammelt. Eigentlich hatte der Segginger Pfarrer die alte Frau nicht in geweihter Erde bestatten wollen. In seinen Augen war sie eine Heidin. Geld, um die Beerdigung zu bezahlen, hatte sie auch nicht. Das Geld stiftete schließlich Magdalena von Hausen aus ihrer Privatschatulle. Überredet hatte ihn am Ende Hans Jakob von Schönau. Als Diemer die vielen Menschen sah, war er froh, zugestimmt zu haben. Allerdings musste er sich nun eine längere Grabrede einfallen lassen. Eigentlich hatte er vorgehabt, nur einige Worte zu sagen und die Sache gut sein zu lassen. So kam die alte Nele, die Heidin, Heilerin und Hexe, die Wächterin der Seconia nach ihrem Tode noch in den Genuss, viele lobende Worte über sich zu hören, und das gewissermaßen aus geweihtem Mund. Katharina überlegte, was ihre Freundin dazu wohl gesagt haben würde. Doch da sie deren Sinn für Humor kannte, war ihr klar: Nele hätte sich wahrscheinlich königlich amüsiert. Für Katharina war es jedoch schon eine Genugtuung, dass die Menschen wenigstens jetzt kundtaten, was ihnen Nele gewesen war.
Katharina warf ein kleines Sträußchen von getrocknetem Lavendel in Neles Grab — als letzten Gruß für die Frau, die ihr so oft Halt und Heimat gegeben hatte, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Sie hoffte so sehr, dass Nele ihren Frieden gefunden hatte, dort, wo sie jetzt war. Denn selbst hier auf dem Friedhof, noch am offenen Grab, tuschelten die Menschen über ihre Nachfolgerin Katharina. Sie begegneten ihr — ähnlich wie einst der alten Nele — mit Misstrauen. Obwohl sie viele in der Menge sah, denen sie schon geholfen hatte. Doch sie wusste, damit würde sie leben müssen. Die Menschen kamen trotzdem. Denn in den letzten Wochen war sie unmerklich mehr und mehr in die Rolle geschlüpft, die Nele einst ausgefüllt hatte.
Etwas half Katharina über den Verlust der geliebten Alten hinweg. Anderthalb Monate, nachdem die Menschen Nele zu Grabe getragen hatten, war ihr klar, sie war wieder schwanger. Konz Jehle, der werdende Vater, hätte sie mit seinen Bärenkräften vor Freude fast erdrückt, als er die Nachricht hörte.
Nun war Katharina die Wächterin des Schreins der Seconia. So ging sie eines Abends wieder über den engen Trampelpfad zu jenem Stein, der ihr eine Vergangenheit, der ihr Eltern geschenkt hatte. Auch wenn sie noch immer nicht wusste, wer sie waren. Wieder fühlte sie das Rieseln, als flösse warmes Wasser durch ihre Glieder, als sie ihre Hand auf die glatte Oberfläche legte und dem Stein die Botschaft von Neles Tod und dem neuen Kind brachte. Wieder antwortete Seconia. Doch diesmal sah Katharina Bilder, die sie nicht verstand. Dunkle Bilder, durchmischt mit lichten Momenten. Wie Wolken, durch die hin und wieder die Sonne fiel. Sie fühlte sie eher, als dass sie sie sah. Aber sie konnte die Botschaft nicht deuten. Bis auf einen ganz kleinen Teil. Das Kind, das in ihr wuchs, würde ein Mädchen sein. Mit der Geburt dieses Kindes würde ein Teil der alten Nele wiederkehren. Denn alles war ein Teil von allem, das Leben fand immer zu seinem Anfang zurück und vollendete damit den Kreis.
Es wurde ein kalter Winter. Kälter als jeder, an den sich selbst die Ältesten erinnern konnten. Die Menschen froren in ihren Häusern. Sogar jene, die sich teures Feuerholz leisten konnten und einen Kamin hatten. Jede Nacht stieg eisiger Dunst vom Rhein auf und legte sich wie Raureif über die Gemüter und die Glieder. Viele der Ärmsten gingen heimlich in den Wald, um Holz zu stehlen. So war es auch eine harte Zeit für Konz Jehle. Als Bannwart des Dinghofes Murg war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich jeder nicht mehr an Holz nahm, als ihm zustand. Er war dafür dem Keller und dem Stift gegenüber verantwortlich. Mehr als einmal sah er zur Seite. Denn er wusste aus eigener Erfahrung, wie weh die Not tun konnte. Manchmal musste er aber einschreiten und so mancher Holzdieb wurde gestellt. Zumeist kostete dies die Ertappten noch das Letzte, das sie besaßen. In den Häusern und Höfen kehrte langsam der Hunger ein, hing gleich der Kälte wie ein drohender Schatten über der ganzen Gegend. Denn die letzte Ernte war schlecht gewesen, die Vorräte gingen schnell zur
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