Zeit des Lavendels (German Edition)
Neige. Trotzdem musste von allem der vorgeschriebene Teil an das Stift gegeben werden. Hans Jakob von Schönau hatte Spichwärter Hans Köhler zwar angewiesen, im Zweifelsfall zugunsten der Menschen zu entscheiden. Doch das tat Köhler höchst selten. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, die Geschäfte schlecht verwaltet zu haben in einer Zeit, in der es keine Äbtissin gab.
Die Kälte forderte in diesem Winter einige Tote. Zumeist waren es die Kleinsten. Wie oft sah Katharina ein Neugeborenes, das übel hustete und zudem unterernährt war, weil auch die Mutter hungerte und deshalb zu wenig Milch hatte. Vielen konnte sie trotz aller Mühen nicht helfen. Die kleinen Körper waren einfach zu schwach, um auch noch mit Krankheit und Fieber fertig zu werden. So zog in diesen kalten Tagen in vielen Häusern dumpfe Trauer ein. Zwar war es nicht unüblich, dass kleine Kinder starben. Doch in diesem Winter musste der Segginger Pfarrer viele kleine Körper in die heilige Erde betten.
Das Gemurmel der Menschen wurde lauter. Im Winter gab es nicht so viel zu tun wie im Sommer. Die Ernte war inzwischen versorgt und eingebracht. Die kurzen Tage über widmeten sich die Menschen ihren Alltagsgeschäften, an den Abenden aber blieb viel Zeit, miteinander über Ereignisse zu diskutieren und über die Zukunft zu sprechen. Die Männer taten das zumeist am Stammtisch in der Schänke der Broglis. Die Frauen trafen sich in den Häusern, die Hände beschäftigt mit dem Spinnen der Schafswolle oder dem Ausbessern von Kleidern.
Wo Zeit zum Nachdenken ist, bekommt die Phantasie Flügel. Bald wisperten die Segginger hinter vorgehaltener Hand von einem Fluch, der über der Stadt und den Menschen lag. Nicht lange danach wurden die Blicke, die Katharina im Vorbeigehen musterten, immer finsterer. Sie stecke hinter all dem, munkelten die Menschen. Damals, als die Hexe aus Basel zurückkam, habe alles Schlechte angefangen. Selbst eine Frau wie Magdalena von Hausen sei diesen bösen Kräften schließlich erlegen. Denn wie sonst hätte die Äbtissin ihrem Glauben untreu werden können, wie sonst sich einen Mann nehmen, obwohl das doch undenkbar gewesen war. Der Bankert, das Niemandskind steckte hinter all dem! Auch wenn sie noch so hoch aufgestiegen war und sich einen noch so gutbürgerlichen Anstrich gab. Wer konnte denn schon wissen, aus welchem Teufelsloch diese Katharina einst gekrochen war?
Auch dieser Winter ging vorbei. Mit den ersten Sonnenstrahlen vergaßen die meisten Menschen das Gerede und machten sich daran, sich auf den nächsten Frühling, die nächste Aussaat, den nächsten Lachsfang vorzubereiten. Sie hatten weniger Zeit, sich über den Fluch zu unterhalten. Als die Tage langsam wärmer wurden, zog wieder Hoffnung in die Herzen. Nur noch wenige Wochen, dann würden die Obstbäume wieder blühen und die Saat wieder sprießen. Dann würde es die ersten frischen Kräuter geben, die ersten knackigen Radieschen und Rettiche. In den Ställen kämen die jungen Tiere zur Welt, für die Besitzer bedeutete das Milch, Käse, Butter. Zwei Monate lang, von März bis Mitte Mai, hielt dieser Frühling, was sich alle von ihm erhofften. Jene Stimmen, die den bösen Fluch beschworen, wurden weniger und leiser.
Dann kamen die Eisheiligen und mit ihnen der große Frost. Über Nacht verwandelte sich der Anblick der Landschaft. Die Bäume hatten zwar spät geblüht, aber dafür umso üppiger. Am nächsten Morgen war keine der zarten Obstblüten mehr übrig. Die Kerzen der Kastanien, die am Tag davor noch die Luft mit ihrem Duft erfüllt hatten, waren über Nacht zu traurigen, runzligen braunen Gebilden geworden. Die zarten Wurzeln der ersten Saat erfroren im Boden, und viele der kleinen Tiere, die in diesen Frostnächten geboren wurden, verendeten kläglich im Stall. Das brachte zwar kurzfristig Fleisch, tötete aber jede Hoffnung auf neues Leben. Selbst der Gesang der Vögel war verstummt. Starre legte sich über das Land.
Der strenge Frost hielt viele Tage an. Erst als der Mai zu Ende ging, schien es, als wolle die Wärme endlich Einzug halten. Wieder schulterten die Menschen ihre Schaufeln, wieder spannten sie die Pferde oder sich selbst vor Egge und Pflug, um noch einmal auszusäen in der Hoffnung, doch noch eine Ernte einbringen zu können. Und selbst der Salm, der sonst in rauen Mengen den Fluss heraufgekommen war, um die Laichplätze aufzusuchen, wurde inzwischen knapp. Da wurde jedes Korn gebraucht.
Doch auch die wenigen Tage der Wärme und
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