Zeit des Verrats: Finnland-Krimi: Finnland-Krim
angekündigt worden. Er nahm meinen Koffer und brachte ihn in eine gläserne Kabine neben dem Eingang, gab mir keine Quittung und lehnte das Geld ab, das ich ihm anbot.
Ich schlug einige Minuten auf der Toilette tot. Im Spiegel starrte mich ein müde aussehender Viktor an, dabei war die Nacht ruhig verlaufen. Ich hatte fest geschlafen und war nicht einmal wach geworden, als der Zug in St. Petersburg und Twer hielt.
Das Restaurant lag im ersten Stock, am Ende langer, mit weichen Teppichen ausgelegter Gänge. An den Wänden hingen Fotografien von Politikern und Unterhaltungskünstlern, die im Hotel übernachtet hatten. In einer Art Foyer wurde eine Marketingveranstaltung vorbereitet. Junge Frauen in topflappengroßen Röcken balancierten auf schwindelerregend hohen Absätzen Weingläser zu den Tischen.
Der Oberkellner führte mich ungefragt an einen Tisch auf der Raucherseite. Der große Raum war leer bis auf einen jungen Kellner, der Teller und Tassen vom Nebentisch abräumte.
Ich wartete. Durch das wandbreite Fenster sah man über die Straße und den Platz hinweg auf die roten Backsteinmauern des Kremls und das Auferstehungstor, hinter dem sich der Rote Platz abzeichnete. Die Putzbrigade am Grab des Unbekannten Soldaten verlieh dem Bild eine altvertraute Färbung. Das Trüppchen der Omas und Opas in grauer Arbeitskleidung fegte ohne jede Eile, aber sorgfältig, die verwelkten Blumen zusammen, trug den Inhalt der Abfalleimer zu einem kleinen Gaz und kippte ihn auf dessen noch kleinere Ladefläche.
» Dobroe utro «, unterbrach eine tiefe Stimme meinen nostalgischen Moment.
Es waren drei Männer. Derjenige, der mich angesprochen hatte, war eher klein und schlank, erst um die dreißig.
Mir war bereits aufgefallen, dass ich eine Abneigung gegen Machthaber und Entscheidungsträger hatte, die jünger waren als ich. Ich versuchte, mir klarzumachen, dass ich selbst eben älter wurde. In wichtige Positionen stiegen ebenso wichtige Leute auf wie früher. Auch dass der Mann so klein war, gab mir zu denken. War geringe Körpergröße im heutigen Russland ein Vorteil? Medwedjew und Putin, bei denen Mutter Natur mit den Zentimetern gegeizt hatte, empfanden es womöglich als peinlich, von langen Kerls umgeben zu sein.
Ich behielt meine Schlussfolgerungen für mich und erwiderte den Gruß.
»Ich bin Dolgich«, sagte der Mann, nannte weder Vor- noch Vatersnamen. »Und Sie sind Viktor Gornostajew. Sie gestatten?«
Die Männer, die neben Dolgich standen, warteten meine Zustimmung nicht ab, sondern stellten sich links und rechts von mir in Positur und klopften mich sachkundig ab. Dann traten sie synchron zurück, nickten und entfernten sich.
»Ich habe keine Waffe«, lächelte ich.
»Das wusste ich«, sagte Dolgich freundlich. »Wir wollten uns nur vergewissern, dass du auch sonst nichts Schädliches an dir trägst. Aber jetzt wollen wir das Frühstück genießen. Es gibt hier ein vorzügliches Büfett, sehr zu empfehlen. Warme Pasteten und anderes Gebäck. Hervorragenden Speck. Kartoffelgratin. Würstchen. Pilze. Und der Junge presst frischen Fruchtsaft. Bitte sehr, Viktor Nikolajewitsch.«
Ich sagte, ich sei tatsächlich hungrig. Das entsprach der Wahrheit. Außerdem wollte ich zeigen, dass ich nicht etwa vor Angst den Appetit verloren hatte.
Wir aßen. Nach seiner zweiten Tasse Kaffee zündete sich Dolgich eine Zigarette an.
»Ich arbeite in der Administration. Erzähl mir alles.«
Ich betrachtete die Teekrümel, die sich auf dem Boden meiner Tasse sammelten. Auch sie verrieten mir nicht, welcher Administration Dolgich diente. Dem Kreml? Einem Ministerium? Der Armee? Oder war sein Arbeitgeber die Federalnaja služba bezopasnosti , allgemein bekannt als FSB?
Erzähl mir alles. Dolgich fragte nicht und befahl nicht, er verkündete eine Tatsache.
Vor Teppo Korhonen, der finnischen Zentralkripo oder der Supo konnte ich lächeln und schweigen oder mir aussuchen, was ich sagen wollte. Aber Dolgich war ein Kontakt, um den ich selbst gebeten hatte. Seine Zeit durfte ich nicht verschwenden, indem ich zauderte oder lavierte.
Und wenn nun alles nur ein Missverständnis oder eine Überreaktion ist?, dachte ich plötzlich erschrocken. Vielleicht hatte Wronskij in meinem Wagen nur eine kleine Drogenlieferung oder Schmuck versteckt. Dolgich würde mich auslachen und die ganze Kette büßen lassen, bis hin zur Petersburger Kasse und Onkel und der Botschaft. Und in dieser Kette wäre ich das letzte und schwächste Glied, man würde
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