Zeit Des Zorns
Bedeutung gedacht gewesen war. 235
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Juni 1999, EU-Gipfel in Köln : Es gab sehr verschiedene Positionen unter den Gipfelgegnern, wie spätestens bei der Vorbereitung undDurchführung der Anti-Gipfel-Aktionen klar wurde. Manche, die sich noch als Kritiker der Europäischen Union (EU) – nicht als Kritiker Europas! – gerierten, kokettierten längst mit all den materiellen Annehmlichkeiten, die die EU bestimmten Kreisen, nicht nur Europaparlamentariern, bot. Die EU winkte mit Jobs und Fonds für Projekte, auf die manch eine Gruppe nicht verzichten wollte. Linke und linksradikale EU-Gegner kritisierten die NGOs (Non-Governmental Organizations, Nichtregierungsorganisationen). Manch eine NGO sah sich eher als Politikberater denn als Kritiker. Ein Teil dieses Milieus hatte alle seine radikalreformerischen Forderungen aufgegeben. Die PDS zum Beispiel, die Anfang der 1990er noch vorgegeben hatte, eine linke, explizit antikapitalistische Partei sein zu wollen, war längst zu einer Möchte-gern-mitregieren-Partei geworden, hatte sich – schneller noch als die Grünen – angepasst und war inzwischen in Mecklenburg-Vorpommern an einer Landesregierung beteiligt. Ihrer EU-Kritik war – auch wenn sie sich mal gut anhörte – nicht zu trauen. Eine richtige Einschätzung, wie wir heute wissen.
Statt um internationale Solidarität und soziale Befreiung ging es so einem Teil der Demonstranten nur noch um die Ausarbeitung von »globalen Steuerungsprogrammen« und um die »Bändigung spekulativer Finanzströme«, als sei das Finanzkapital losgelöst vom Produktivkapital. Um den Widerstand gegen den Kapitalismus insgesamt ging es ihnen nicht mehr. Dafür kam damals die staatstragende PDS auf die Idee, um globale Krisen zu lösen, solle eine UN-Weltpolizei – verdruckst betitelt als »Standby-Truppen« – eingerichtet werden.
Aber die linken Gipfelgegner setzten sich noch weitgehend durch. Die EU-Gegner protestierten gegen die »staatlichen Vollstrecker der kapitalistischen Weltordnung« auf dem EU-Gipfel, gegen den Ausverkauf Osteuropas an die Interessen des westeuropäischen Kapitals und gegen die wachsende Verarmung in Europa. Zu ihren Forderungen gehörte die »Zerschlagung aller herrschaftssichernden Institutionen wie WWG [Weltwirtschaftsgipfel], IWF, Weltbank, NATO« und die sofortige Streichung der Schulden sowie Reparationszahlungen an den ausgeplünderten Trikont. Sie kritisierten aus guten Gründen die EU-Agrarpolitik, dieAbschottung der EU-Festung gegen Flüchtlinge und Migranten sowie die innere und äußere Militarisierung Europas. Von 1990 bis 1999, neuere Zahlen habe ich nicht gefunden, waren schon etwa 90 Menschen an der BRD-Ostgrenze gestorben – auf der Flucht vor dem Bundesgrenzschutz oder deutschen Bürgerwehren, verunglückt oder ertrunken beim Versuch, nachts an gefährlichen Stellen die neue, viel modernere Mauer zu überqueren.
Als nach dem EU-Gipfel in Köln die Protestierenden in Deutschland in einer Sackgasse zu stecken schienen und noch hitzig darüber diskutiert wurde, wie weiter vorzugehen sei gegen die »neue Weltordnung«, brachten die Ereignisse im amerikanischen Seattle einen Hoffnungsschimmer am finsteren Horizont.
6 Auf dem Weg in die Diktatur
In Seattle wurde 1999 der Beginn eines Aufbruchs einer noch jungen neuen internationalistischen Bewegung gefeiert. Zuerst einmal verwandelte die Polizei die nordwestamerikanische Stadt »in ein Kriegsgebiet«, wie Vandana Shiva, Trägerin des Alternativen Friedensnobelpreises, es beschrieb. 236 Die Polizei trat RoboCopähnlich auf und setzte Gummigeschosse, Tränengas und Prügel ein – aber es nützte ihr nichts. Die Staatsmacht war auf die Intensität des Protestes gegen die WTO nicht vorbereitet. Die Tagung scheiterte auf spektakuläre Weise.
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November 1999, Konferenz der Welthandelsorganisation in Seattle : Hier sollte die »Millenniumsrunde«, die Jahrtausendrunde zu Handelsfragen, eröffnet werden, um die »Liberalisierung des Welthandels« und die »Marktöffnung« weiterer Staaten auszudehnen, eine Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Für einen großen Teil der Welt bedeutete das nichts anderes als eine Bedrohung. 50 000 Demonstranten belagerten das Treffen. Sie verhinderten nicht nur den geplanten Ablauf der Zusammenkunft, sondern erzwangen ihren vorzeitigen Abbruch. Die WTO-Konferenz brachte nicht einmal eine gemeinsame Abschlusserklärung zustande.
Sobald die Polizisten irgendwo Blockierer herausgezerrt und
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