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Zeit Des Zorns

Zeit Des Zorns

Titel: Zeit Des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ditfurth
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festgenommen hatten, setzten sich andere Demonstranten an ihre Stelle. Seattles Polizeipräsident gestand nach seinem Rücktritt: »Wir waren nicht auf die Tiefe der Anti-WTO-Gefühle vorbereitet. Und nicht auf die sehr große Zahl von Einzelpersonen, die eine Minderheit aller Protestierer repräsentierten, die auf Zerstörung und Gewalt aus waren.« 237
    Gewalt? Die Medien vermitteln die von der Politik der WTO ausgehende menschenvernichtende Gewalt niemals so eindringlich wie das vergleichsweise bedeutungslose Vorkommnis kaputter Scheiben bei McDonald’s. Das perspektivlose, von Hunger und Krankheiten geschüttelte Leben auch nur eines einzigen Menschen im Trikont wird nie so einfühlsam dargestellt wie der Zorn eines Konferenzteilnehmers über lästige Demonstranten.
    Die Polizei hatte außer ihrer Überraschung über die Wut auf die WTO noch ein Problem. Der damalige US-Präsident Bill Clinton ließ sich nicht davon abhalten, nach Seattle zu kommen und die Teilnehmer der Konferenz mit einer Rede zu beglücken. Es war schließlich Wahlkampf. Wie man einem Interview mit Clinton später entnehmen konnte, hatte das Weiße Haus eine geheime Absprache mit der AFL-CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations), dem Dachverband der US-amerikanischen und kanadischen Gewerkschaften, getroffen. 238 Die AFL-CIO nahm an den Anti-WTO-Protesten teil. Aber die Annahme, dass der Verband für seine Rücksichtnahme auf den wahlkämpfenden US-Präsidenten eine Mehrheit der Demonstranten und Blockierer gewinnen würde, war ziemlich unrealistisch. Warum sollten ernsthafte WTO-Gegner ausgerechnet dem höchsten Repräsentanten derjenigen Nation den Weg frei machen, die am meisten Schaden in und mit der WTO anrichtete? Die Mehrheit unter den 50 000 Protestlern war ein bunter Haufen aus gewaltfreien und militanten, linken, anarchistischen, sozialistischen und internationalistischen Gruppen und nicht so leicht zu vereinnahmen, wie es sich das Weiße Haus vorgestellt hatte.
    Der Secret Service des US-Präsidenten verlangte von der Polizei von Seattle, dem Präsidentenwunsch absoluten Vorrang zu geben und einen großen Teil ihrer Kräfte von der Räumung der Blockaden abzuziehen, um Clinton die Straßen frei zu machen. Ronald Legan, der leitende Vertreter des Secret Service in Seattle, stellte der Polizei ein Ultimatum, denn »wir wollten seine Wagenkolonne aus 30 Autos nicht nach Seattle hinein- und wieder hinausprügeln müssen« 239 . Die Polizei gab nach, zog Einheiten von den Protesten ab, und so kam Clinton durch – aber die Konferenz blieb blockiert.
    Eigene Erfahrungen in ihren Ländern mit den Folgen der WTO-Politik sowie der Druck der »Straße« schürten auch die Widersprüche unter den damals 135 (heute 157) WTO-Mitgliedsstaaten. Einige Handelsminister aus Asien, Afrika, Zentral- und Lateinamerika verweigerten ihre Unterstützung für den hinter verschlossenen Türen ausgehandelten »Konsens«. Es gelang den mächtigsten Regierungen in der WTO, den USA, der EU und Japan, nicht einmal, sich auf eine Tagesordnung für die Jahrtausendrunde zu einigen.
    Seattle wurde zum Fanal, zum Triumph eines »konfrontativen Vorgehens« gegenüber dem »lobbyistischen Schmusekurs der Nichtregierungsorganisationen«, wie es der Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (BUKO) nannte. Indem die linken Aktivisten die WTO-Konferenz störten, verzögerten sie auch verheerende Beschlüsse. Aber das System, das mehr als 24 000 Kinder unter fünf Jahren 240 täglich an Unterernährung sterben lässt und das dazu geführt hat, dass heute etwa eine Milliarde Menschen hungert, auch weil die Nahrungsmittelpreise durch Spekulation und Agrosprit gestiegen sind, wurde nicht gestoppt. 241
    Dennoch hatte der Erfolg von Seattle – zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, acht Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion, nach all dem Siegesgeschrei vom »Ende der Geschichte« und dem noch endgültigeren »Sieg des Kapitalismus« – eine der internationalen Agenturen des Kapitals für einen Moment ausgebremst und weltweit vielen Menschen klargemacht, um was für eine menschenverachtende Organisation es sich bei der WTO handelte. Und es wurde die Botschaft verbreitet, dass tatsächlich ganz gewöhnliche Menschen etwas tun können, wenn sie sich zusammenschließen.
    * * *
    September 2000, IWF- und Weltbank-Konferenz in Prag : Die beiden Institutionen tagten zum ersten Mal in einem osteuropäischen Land. Eine Initiative gegen

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