Zeit Des Zorns
Teile der Kampagne, sich zu distanzieren. Aber die sagten der Presse: »Jede Gruppe hat ihre Widerstandsformen selbst zu wählen, zu begründen und zu verantworten.« Der erste Spaltungsversuch war misslungen. Konsens war: Alle Aktionsformen sind möglich, sanfte und militante, bunte und schwarze, lustigeund bitterernste. Die Massenzeitung der IWF-Gegner hieß Zahltag . Sie erschien täglich in einer Auflage von 50 000 Stück.
Innensenator Kewenig kündigte die Abriegelung des Stadtteils Kreuzberg an. Die Mauer stand ja noch, im grenznahen Bereich waren die Wohnungen billig, hier lebten viele Linke. Sie neigten dazu, sich über die Dächer zu flüchten oder auf ihnen zu sitzen, zu lärmen und Unflätiges zur Polizei hinunterzurufen oder, schlimmer noch, zu werfen. In Kreuzberg jagten Polizeieinsatzfahrzeuge kleine Gruppen von Jugendlichen, die Besatzungen verprügelten sie und buchteten sie ein. Wenn man in der Bundesrepublik Deutschland von »Vorfällen an der Mauer« redete, war so etwas nie gemeint. Viele bürgerliche Kreuzberger protestierten. Der Innensenator bot Passierscheine für den Stadtteil an.
Eine Flut von Aktionen und Informationsveranstaltungen, darunter ein Gegenkongress mit überraschend vielen, nämlich 4 000 Teilnehmern, informierte über die weltweite Politik des IWF und der Weltbank, aber auch über Polizeirepressionen, die Verletzung der Pressefreiheit und des Demonstrationsrechts. Die Polizei rächte sich mit Prügeleien, Festnahmen, Haus- und Autodurchsuchungen, Demonstrationsverboten, weiteren Straßensperrungen, Beschlagnahmungen von Flugblättern und Polizeikesseln. An einem bayerischen Grenzübergang wurde eine Gruppe von italienischen IWF-Gegnern festgenommen, damit sie nicht nach Westberlin reisen konnte. Gegen ein Straßentheater setzte die Polizei das Kampfgas Chemical Mace ein.
Am vierten Tag zogen 80 000 Demonstranten durch Westberlin – gegen die Politik von IWF und Weltbank, für Solidarität mit dem Trikont und für die sofortige Schuldenstreichung. Es war eine der größten Demonstrationen der Nachkriegszeit. Sie wurde hier und da drangsaliert, aber die Demonstranten blieben gelassen und setzten sich durch. Es war ein strahlend schöner Tag.
Wir standen als lose Gruppe von etwa 25 bis 30 Journalisten auf dem Breitscheidplatz und beobachteten die Szenerie. Unsere Presseausweise waren sichtbar, die teuren Kameras einiger Fotografen auch. Plötzlich wurden wir von ein paar Dutzend Polizisten in Kampfanzügen eingeschlossen. Sie ließen keinen raus. Ich machte den Kollegen den Vorschlag, dass wir uns wehren und dieSache öffentlich machen sollten. Wir verständigten uns, eine Protesterklärung gegen die Einschränkung der Pressefreiheit zu verfassen. Die damalige Chefredakteurin der taz hatten wir dazugebeten und ihr die Veröffentlichung des Schreibens übertragen. Wir richteten unsere Erklärung an das Abgeordnetenhaus von Berlin und die Parlamente der Westalliierten, verlangten eine sofortige Beendigung der Polizeiübergriffe, strafrechtliche und disziplinarische Maßnahmen, eine Untersuchung der Vorfälle durch das Abgeordnetenhaus von Berlin und den US-Kongress, denn »die pressefeindlichen Aktionen der Polizei fanden im US-Sektor von Restberlin statt« ( taz ). 229
Die Berichte über die polizeiliche Freiheitsberaubung von Journalisten breiteten sich bis in die USA aus, selbst in der New York Times soll der Pressekessel erwähnt worden sein. Demonstranten blutig schlagen war kein Tabu, aber Journalisten einkesseln schon. Als Erstes meldete sich Gery Studd, Mitglied des US-Kongresses: »Ich bin tief besorgt und habe dies dem Außenministerium bereits mitgeteilt.« 230 Auch der US-amerikanische Ausschuss für europäische Angelegenheiten wollte sich mit dem Pressekessel beschäftigen. Diese internationale Aufmerksamkeit war einigen Berliner Politikern und Polizeifunktionären sehr unangenehm. Der Pressesprecher des Innensenators wollte die Namen der Journalisten wissen, um sich mit jedem einzelnen über seine Beschwerde auseinanderzusetzen.
Anfang Oktober befasste sich der Innenausschuss des Berliner Senats in einer Sondersitzung mit den Ereignissen. Es gab Gruseliges zu sehen. Ein Videofilm zeigte, »wie der Kopf einer jungen Frau mehrmals von einem Polizisten auf das Straßenpflaster geschlagen wird«. Ans Licht kam auch eine Freigabe zum Zuschlagen, eine interne Mitteilung des Innensenators an die Polizei: »Kräfte aller Abschnitte sollen verstärkt in Eigeninitiative
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