Zeit Des Zorns
die Demonstration, die Reiter prügelten nach allen Seiten. Hunde wurden in einen »schwarzen Block« gehetzt. Die Wut der so Angegriffenen entlud sich in Steinwürfen. Scheiben gingen zu Bruch, von Wartehäuschen, Fast-Food-Kneipen, Banken und Cafés.
Eine große Demonstration am Abend, an der auch bürgerliche Demonstranten und Prominente teilnahmen, ließ die Polizei jedoch in Ruhe. Aber auf der Avenyn, Göteborgs zentraler Einkaufsstraße, und im Vasapark feierten junge Leute eine hippieske »Reclaim the Street«-Party. Ihre Fete war lange angekündigt, nichtsdestotrotz sah sich der Staat bedroht. Die Polizisten, in voller RoboCop-Montur, umstellten den Park und griffen die Teilnehmer der Fete an. Daraus entwickelte sich eine mehrstündige Straßenschlacht, zu der mehr und mehr Demonstranten eilten, die die Ereignisse des Tages und der Nacht nicht vergessen hatten. Fast kein Medium erklärte diese Hintergründe, die Fotos von brennenden Caféstühlen und Müllcontainern hatten »Erklärung« genug zu sein.
Hannes Westberg warf in der Vasagatan einen Stein. Der fiel kurz vor der Polizeikette auf die Straße. Der 19-jährige Schwede drehte sich um. Ein Polizist zog seine Waffe, zielte auf ihn und schoss. Der junge Mann fasste sich an den Rücken, stolperte noch ein paar Schritte und stürzte auf die Straße. 246 Er schwebte tagelang in Lebensgefahr. Die Polizisten schossen noch zweimal und trafen noch einen Demonstranten sowie einen freiberuflichen Fotografen.
Am Samstagmorgen demonstrierten nahezu 25 000 Menschen gegen die Militarisierung der EU, gegen »neoliberale« Wirtschaftspolitik und gegen die Festung Europa. Gegen Abend versammelten sich ein paar hundert auf dem zentralen Platz Järntorget, um spontan gegen die Polizeigewalt zu demonstrieren. Alle Anwesenden, auch Zuschauer und Passanten, wurden eingekesselt,viele festgenommen. Gegen Mitternacht wurde der Kessel plötzlich geöffnet. Es war vorbei. Aber nicht für alle.
Ein Abschlussangriff musste schon sein. Gegen 22 Uhr stürmte eine mit Maschinengewehren bewaffnete Anti-Terror-Einheit die Schillerska-Schule. Auch diese Schule war den Gipfelgegnern von der Stadt als Schlafstätte zur Verfügung gestellt worden, offensichtlich eine ganz spezielle Form von Göteborger Gastfreundschaft. Diesmal lautete die Ausrede, ein »deutscher Terrorist« mit Handfeuerwaffen halte sich hier versteckt. Es hat dafür nie einen Beweis gegeben. Die 78 Gäste der Schule mussten sich auf den Schulhof legen. Wer einen schwedischen Pass hatte, wurde freigelassen – man wollte noch größeren Ärger meiden –, aber alle Demonstranten mit ausländischen Pässen wurden in Gewahrsam genommen.
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Als es später wegen der Schüsse gegen die Demonstranten zum Prozess kam, behauptete die Regierung, die Polizisten seien bedroht worden und hätten um ihr Leben fürchten müssen. Die Videofilme der Polizei zeigten scheinbar, wie vermummte Demonstranten die Polizei attackierten und auch nicht aufhörten, als diese Warnschüsse abgab. Aber schwedische Fernsehjournalisten wiesen nach, dass Filmschnipsel hineinmontiert worden waren, die aber Demonstranten zeigten, die sich an einer anderen Stelle in der Stadt aufgehalten hatten. Es sollte so aussehen, als seien die Polizisten in einer bedrohlichen Situation gewesen. Die Journalisten wiesen auch nach, dass die Polizei eine Szene herausgeschnitten hatte, die dokumentierte, wie ein Polizist einem auf den Boden liegenden Demonstranten auf den Kopf trat. Die Polizei fügte sogar – ob es für diese Fälschungsmethoden an den Polizeischulen wohl gesonderte Kurse gibt? – Soundeffekte hinzu, um die Handlungen von Hannes Westberg und anderen als bedrohlicher erscheinen zu lassen, wie Amnesty International kritisierte. 247
Der Staatsanwaltschaft war die Manipulation peinlich, die sie doch eigentlich selbst hätte aufdecken müssen. Noch gilt, dass auch Beweise für die Unschuld von Beschuldigten und Angeklagtenzu ermitteln sind. Schwedens Oberster Staatsanwalt Bengt Landahl erklärte: »Ich habe die Filmversion, die die Polizei vorgelegt hat, nie in Frage gestellt. Künftig werde ich Videoaufnahmen kritischer begegnen.« 248 Wo lebt der Mann eigentlich?
Die Schüsse blieben ohne juristische Konsequenzen für die beteiligten Polizisten. Die Göteborger Staatsanwaltschaft kam zwar zu dem Schluss, dass sie sich nicht in einer Notwehrsituation befunden hatten, dennoch wurden die Ermittlungen gegen den Schützen am 28. Mai 2003 zum dritten
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