Zeit Des Zorns
Mal eingestellt.
Der 19-jährige Hannes Westberg lag mehrere Tage im Koma, die Ärzte mussten ihm eine Niere und die Milz entfernen, die Aorta war verletzt. Er wäre beinahe gestorben. Nach seiner Genesung wurde er zu einer 18-monatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt – wegen gewaltsamen Aufruhrs und Gewalt gegen Polizeibeamte. Die Strafe wurde später wegen Westbergs schweren Verletzungen um zehn Monate herabgesetzt. Die Ermittlungen gegen die Polizisten wurden eingestellt. Zum ersten Mal seit der Niederschlagung eines Arbeiteraufstands im Jahr 1931 im nordschwedischen Ådalen hatten Polizisten in Schweden wieder auf Demonstranten geschossen.
Westberg hat nicht aufgegeben. Er ist heute 30 Jahre alt, hat eine kleine Tochter, interessiert sich für Musik, studiert und ist immer noch links. Manchmal tritt er bei Diskussionsveranstaltungen auf.
Der 19-jährige Sebastian St. aus Bad Münstereifel hatte gerade sein Abitur gemacht und war mit einem Freund nach Göteborg gefahren. Ein Polizist schoss ihm bei der »Reclaim the Street«-Party in der Vasagatan ins Bein. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft war, dass Sebastian mit einem Stein auf einen Polizisten losgegangen sei. Er bestritt das, er habe nur bei lauter Musik auf der Straße getanzt und sei dabei auf die Polizisten zugelaufen. Es wurde ein Haftbefehl gegen ihn erlassen, vor seinem Zimmer in der Göteborger Universitätsklinik standen zwei Polizisten Wache, es herrschte absolutes Besuchsverbot. Sebastian wurde im Juli 2001 von einem Göteborger Gericht zu einem Jahr und acht Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Seine Verwundung wurde nicht als ein Grund für eine Haftmilderung angesehen.
Die Regierung »musste« eine Notwehrsituation für eine ganze Großstadt erfinden, um den Delegationen der 15 EU-Staaten sowie den rund 2000 akkreditierten Journalisten eine Ausgangssperre zu verpassen. Das war einmalig in der Geschichte der EU, und es gab eine Menge interner Kritik nicht am Verhalten gegenüber Andersdenkenden, sondern an den lästigen Nebenwirkungen, die das für die ehrenwerten Gäste bedeutet hatte: Abgeordnete durften ihre Unterkünfte nicht mehr verlassen, festliche Abendessen wurden abgesagt, der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker und der niederländische Ministerpräsident Wim Kok flüchteten über die Feuertreppe aus ihrem von Demonstranten belagerten Hotel.
Die schwedischen Behörden waren, im besten Fall, heillos überfordert. Die rot-grüne deutsche Bundesregierung unterdessen gab eine harte Linie vor. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sagte über die Demonstranten: »Das sind Verbrecher, die mit der ganzen Härte der Gesetze zu rechnen« haben. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) verlangte eine sofortige Sondersitzung der EU-Innenminister, um sich »sehr rasch auf ein koordiniertes und hartes Vorgehen gegen diese neue Form grenzüberschreitender extremistischer Kriminalität zu verständigen«. Man könnte linke Aktivisten registrieren und mit Einreiseverboten belegen, schlug er vor.
Die Botschaft wurde gehört und verstanden. Einige inhaftierte deutsche Demonstranten wurden nach einem Terroristenparagraphen im Ausländergesetz verhaftet, isoliert, in sechs Quadratmeter große Zellen gesperrt und durften nur mit schwedischen Pflichtverteidigern, nicht aber mit Anwälten ihres Vertrauens und mit Angehörigen und Freunden kommunizieren. Nach drei Wochen bekamen sie Einzelhofgang, manchmal durften sie Radio hören oder fernsehen. Es waren Haftbedingungen, die ihre deutschen Anwälte, Volker Ratzmann und Hans-Christian Ströbele, an die Behandlung politischer Häftlinge im Deutschland der 1970er Jahre erinnerten. Die Anklagepunkte blieben lange unbekannt, was vermutlich damit zu tun hatte, dass die meisten Verdächtigen fernab jeder Randale aufgegriffen worden waren, auf dem Heimweg zum Hotel zum Beispiel oder an einer Bushaltestelle.
Die meisten Verhafteten waren zwischen 18 und 23 Jahre alt. Sie wurden sofort in Isolationshaft gesteckt, etliche für mehr als drei Monate, obwohl das Gesetz für so junge Leute möglichst kurze Haftzeiten vorschreibt. Man quälte sie mit nächtlichem Lichtanschalten, einige mussten Schlaftabletten und Psychopharmaka einnehmen. »Dies machte sie für die Verhöre ›umgänglicher‹«, schrieb der schwedische Prozessbeobachter und Journalist Erik Wijk. 249
Die Bilanz der staatlichen Gewalt in Göteborg waren drei angeschossene Jugendliche, Hunderte von verletzten jungen Leuten, mehr
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