Zeit Des Zorns
Jahre auf, die immer sicher sein konnten, dass kein Gericht sie je haftbar machen würde.
Anfänglich wurden Placanica und seinen Kollegen auf den Straßen von Genua »Sturmeinsätze« befohlen, um die demonstrierenden Massen ein wenig »zu lockern«, wie ihre Vorgesetzten es nannten. Als Demonstranten daraufhin einen Carabinieri-Mannschaftswagen angriffen, befahl Major Cappello, der Leiter des Bataillons Sicilia und Angehöriger des Fallschirmjäger-Elitekorps Tuscania, Tränengas abzuschießen. Cappello war unzufrieden, weil Placanica »in parabolischen Bahnen« schoss, über die Menge hinweg also, wie man es ihm beigebracht hatte. Der Major, so Placanica, »fing an, auf Mannshöhe zu schießen, wobei er einige Personen im Gesicht traf. Vollkommen irre Sachen […]. Ich musste den Tränengaspatronen die Lasche abnehmen und sie dem Major Cappello reichen. Wenn man die Lasche abnimmt, entflieht ein wenig Gas.« Ihm wurde schlecht. »Daraufhin hat man mich in eine Straße gebracht, die zur Piazza Alimonda führt. Unterwegs habe […] ich […] gesehen, wie Oberst Truglio [Giovanni Truglio, der an diesem Tag in Genua im Rang zweithöchste Carabiniere und Befehlshaber der Sondereinheit CCIR; J.D.] und Major Cappello einige Personen mit einem Fotoapparat schlugen, bis sie bluteten. Ich begann, mich zu übergeben, da haben sie mich in den Jeep einsteigen lassen.«
Hinten im Jeep saßen außer Placanica noch zwei weitere Carabinieri. Es gibt ungeklärte Hinweise auf einen vierten Mann, einen Offizier, der im Fond gesessen haben soll. Vorn saß Cappello, sagt Placanica, und Truglio im zweiten Jeep auf der Piazza. Als die Demonstranten losrannten, ergriff der Zug der Carabinieri, der, so Placanica, »uns beschützen« sollte, die Flucht. Die beiden Jeeps blieben angeblich beim Rangieren stecken, da widersprechen sich die Aussagen. »Sie haben uns alleingelassen, sie haben uns im Stich gelassen«, dachte der junge Soldat. Er lud seine Pistole.
Es existieren inzwischen Fotos und Filmausschnitte von dem, was dann geschah: Der 23-jährige Demonstrant Carlo Giuliani, Punk, Sohn eines Gewerkschafters und einer Kommunistin, stand in Jeans und weißem ärmellosen T-Shirt auf der Piazza Alimonda. Er trug keine Waffen, nur eine schwarze Haube. Placanica warf einen Feuerlöscher aus dem Jeep auf die Demonstranten. Fotos beweisen, dass im Jeep ein Carabiniere, vielleicht Placanica, vielleicht jemand anderes, den Arm ausstreckte und mit seiner Dienstpistole direkt auf einen schwarz-behelmten Demonstranten zielte. Der erkannte die Gefahr, vielleicht, lief jedenfalls weg, stolperte fast über den Feuerlöscher. Carlo Giuliani hob das Gerät auf. Ob er den Feuerlöscher Richtung Jeep oder zur Seite werfen wollte, bleibt unklar.
Der Carabiniere, dessen Gesicht man nicht sieht, schoss eine Kugel in den Kopf von Carlo Giuliani. Während Carlo auf der Straße lag, setzte sich der Jeep in Bewegung und überfuhr ihn zweimal. Gleich darauf umringte Militär den sterbenden jungen Mann. Bei der Obduktion wurde später festgestellt, dass Giulianis Schädelfront gebrochen war. Aus den Ergebnissen der Recherchen schlossen Angehörige und Anwälte, dass Carlos Schädel mit einem Stein eingeschlagen worden war und dass dies nur passiert sein konnte, als ausschließlich Militär um ihn herumstand und Carlo im Sterben lag.
Als der Carabiniere Placanica nach einem ersten nächtlichen Verhör in seine Kaserne zurückkam, jubelten die Kollegen vom Bataillon Tuscania und feierten ihn als »Killer«. 258 Im November 2006 – drei Jahre nach seinem Freispruch – sagte Placanica in einem Interview: »›Man‹ habe auf der Piazza Alimonda einen Toten gewollt, er habe lediglich einige Warnschüsse in die Luft abgefeuert und sei später zum Sündenbock gemacht worden, ›um jemand anderen zu decken‹.« 259 Und er behauptete, nur in die Luft geschossen zu haben, ein anderer sei der Todesschütze. Seine weiteren Aussagen blieben ebenso rätselhaft und widersprüchlich, sein weiterer Lebensweg auch: Die politische Rechte der Berlusconi-Regierung machte ihn zuerst zum jungen süditalienischen »proletarischen Helden«, der sich gegen gewalttätige Linksextremisten zu verteidigen versucht hatte. Nach seinem Freispruch aber kamer in psychiatrische Behandlung und wurde schließlich wegen psychischer Störungen aus dem Dienst entlassen. Placanica bemühte sich vergeblich, bei den Kommunalwahlen in Kalabrien für die neofaschistische Alleanza Nazionale zu
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