Zeit Des Zorns
kandidieren. Noch später bot er sich den Eltern Giuliani als Zeuge an, um angeblich endlich die ganze Wahrheit zu sagen.
2003 war das Verfahren gegen den Carabiniere mit der unglaublichen Begründung der Richterin eingestellt worden: »Der junge Soldat habe nur in die Luft geschossen, dort einen von Demonstranten geworfenen Stein getroffen, und dieser habe den Warnschuss unglücklich Richtung Giuliani abgelenkt. Das habe ein ballistisches Gutachten ergeben.« 260 Giuliano Giuliani, Carlos Vater, ein linker Gewerkschafter, hatte das 2002 so ähnlich vorausgesagt: »Mein Sohn ist ermordet worden, und das war nicht eine Einzelperson, sondern der Staat. Aber wahrscheinlich werden die Ermittlungen zu dem Ergebnis kommen, dass Carlo Selbstmord verübt hat, während die Polizei gleichzeitig ein Tontaubenschießen auf dem Platz veranstaltete.« 261
Wenn man sich die weiteren Ereignisse an jenem 20. Juli vergegenwärtigt, war es ein Wunder, dass Carlo Giuliani der einzige Tote blieb, denn das Blutbad war noch nicht vorüber. Immer wieder griff die Polizei den noch etwa 10 000 Menschen zählenden Demonstrationszug an, sie fuhr Panzer auf, Wasserwerfer und Tränengas. So erging es allen sieben Demonstrationszügen an diesem Tag.
Die Aktionsform Tute Bianche (weiße Overalls) gibt es seit 2000. Sie nahm mit Aktionen gegen Abschiebeknäste in Italien ihren Anfang. Die Frauen und Männer von Tute Bianche kleiden sich, daher der Name, ganz und gar weiß. Sie polstern ihren Körper mit Schaumstoffteilen, aufgeblasenen Reifen, Resten von Isomatten, Klebestreifen und Bauhelmen gegen die Angriffe der Polizei. Das ergibt schon äußerlich einen beachtlichen Kontrast zur monströsen dunklen, technisch ausgefeilten RoboCop-Montur der heutigen Polizisten. Diese Gruppe nahm auch an den Protesten von Genua teil. Luca Casarini, ein Sprecher der Tute Bianche, zeigte später vier Projektile, die die Polizei im Laufe des Tages auf Demonstranten abgefeuert hatte.
Es war der Polizei verblüffend gleichgültig, als ausländische Fotografen und Kamerateams filmten, wie sie einzelne Demonstranten herausgriffen und zusammenschlugen, bis sie regungslos und in ihrem Blut am Boden liegen blieben. Auch diese Unverfrorenheit ließ erkennen, dass die »Sicherheits«-Kräfte von ihren Vorgesetzten und von der politischen Führung freie Fahrt bekommen hatten.
* * *
Einen Tag später, in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2001 übernachteten etwa 100 Demonstranten aus verschiedenen Ländern in der Diaz-Schule abseits vom Zentrum von Genua. Einige schliefen, andere redeten miteinander, schrieben oder checkten ihre E-Mails. Was dann geschah, wurde vom Staat lange bestritten und ist heute »gesichert, dokumentiert und bewiesen«. 262
Der englische Journalist Mark Covell, 33 Jahre alt, war auf dem Weg zum Medienzentrum in der Pascoli-Schule, wo das linke Netzwerk Indymedia und die Rechtsanwälte der Demonstranten einquartiert waren. Die Pascoli-Schule liegt gleich neben der Diaz-Schule. Covell hatte eine Warnung vor einem Polizeiangriff gehört und daraufhin die Diaz-Schule, die vor allem als Schlafstätte diente, in Richtung Medienzentrum verlassen. Er stand auf der Straße, als ihn ein Schlagstock auf die linke Schulter traf. Er rief: »Ich bin Journalist!« Vergeblich. Das Überfallkommando umringte ihn und schlug ihn zusammen. Er lag mit dem Gesicht auf der Straße. Er bekam noch mit, wie sich die Polizei versammelte, um die Diaz-Schule zu überfallen. Er hoffte noch, davonkriechen zu können, als ihm ein Polizeioffizier mit solcher Kraft in den Brustkorb trat, dass ihm ein halbes Dutzend Rippen brachen und seine Lunge verletzt wurde. Er hörte den Polizisten lachen.
Während einige Polizisten versuchten, die Tür zur Diaz-Schule aufzubrechen, mussten andere Polizisten vor dem Gebäude warten. Vielleicht langweilten sie sich. Einige gingen hinüber zu Covell und kickten ihn, als wäre er ein Fußball. Dabei brachen sie seine linke Hand, und seine Wirbelsäule wurde beschädigt. Noch mehr Polizisten trafen bei den Schulen ein. Zwei andere wartende Polizisten gingen jetzt hinüber zu Mark Covell, einer hieb ihm mitdem Knüppel auf den Kopf, der andere trat ihm mehrmals in den Mund, bis 18 Zähne herausbrachen. Covell dachte, dass er jetzt sterben würde, und verlor das Bewusstsein.
Auch das Medien- und Rechtsanwältezentrum in der Pascoli-Schule wurde überfallen und verwüstet, Computer zerstört, Festplatten gestohlen; das eigentliche Massaker aber
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