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Zeit Des Zorns

Zeit Des Zorns

Titel: Zeit Des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Ditfurth
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konnten Anwohner nur mit speziellen Ausweisen betreten. Auf dem Flughafen waren Flugabwehrraketen aufgestellt, Autobahnen und Straßen durch bewaffnete Kontrollen »gesichert«. Teile der Kanalisation waren versiegelt. Der Mobilfunkverkehr wurde gezielt gestört.
    In der roten Zone versammelten sich die Regierungschefs und ihre Delegationen, eine Geisterzone. Manchmal hörte man Rufe entfernter Demonstrationszüge, Pfiffe oder Schläge gegen die Absperrgitter. Davon, dass ein Protest in einer angeblichen Demokratie auch für diejenigen – hier: die Staats- und Regierungschefs – zu hören sein muss, gegen deren Politik man protestiert, war keine Rede.
    Die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Gipfelprotesten in Genua waren riesig: 200 000 Demonstranten, vielleicht sogar 300 000. Auf einer der ersten Demonstrationen liefen 20 000 fröhliche, laute, bunte Menschen aus aller Welt. Punks und Pazifistinnen, Gewerkschafter und Religiöse, Schülerinnen aus Italien und Bauern aus dem Trikont. Sie sahen Hubschrauber über sich kreisen. Vielleicht glaubten sie, dass sie mal wieder ausgespäht wurden. Aber plötzlich sank einer der Hubschrauber tiefer und sprühte CS-Gas in die dichtgedrängte Menschenmenge. Wer keine Schutzmaske aufhatte, und das waren die allermeisten, bekam keine Luft mehr. Panik brach aus. Von den Straßenrändern feuerten Polizisten Gasbomben in den vorderen Teil der Menge. Wohin rennen? Die Aktivisten im Lautsprecherwagen versuchten den Demonstrationszug in Sicherheit zu bringen: Sie riefen zum langsamen Rückzug auf, auf dem Corso Gastaldi sollte sich der Zug neu formieren. Aber auch von anderen Seiten schoss die Polizei jetzt mit Tränengasgranaten in die Demonstration.
    * * *
    Flashback. Malville/Frankreich am 31. Juli 1977 . Auf den Feldern bei Creys-Malville demonstrierten wir gegen den geplanten französischen Superphénix, einen Schnellen Brüter, ein uranbetriebenes Atomkraftwerk. Wir kamen aus vielen westeuropäischen Ländern. Die paramilitärische französische Bereitschaftspolizei CRS(Compagnies Républicaines de Sécurité) beschoss uns mit Tränengasgranaten. Wir wussten nicht, dass sie auch mit Offensivgranaten schossen. Zwei Demonstranten versuchten, die vermeintlichen Gasgranaten auszutreten bzw. zurückzuwerfen, einer verlor dabei eine Hand, ein anderer einen Fuß. Das Gift ließ unsere Augen und Kehlen brennen. Wir flohen durch giftige Nebelschwaden.
    Abends, wenige Stunden, bevor die CRS unser Camp im Dorf Morestel überfiel, erfuhren wir, dass der Druck einer solchen Granate die Lunge des jungen französischen Lehrers Vital Michalon zerrissen hatte. Er war tot. Der Staat log: »Herzversagen«, aber die Leiche konnte den staatlichen Sanitätern weggenommen und ordnungsgemäß obduziert werden, dabei fand sich der Lungenriss. Keiner der Täter wurde je bestraft. Gegen einige von uns gab es sofort Schnellgerichte, viele Verurteilungen, monatelange Haft. Aber wir erlebten auch viel Solidarität, nicht nur als Bauern und sogar Nonnen einige von uns vor der Polizei versteckten.
    * * *
    Genua, 20. Juli 2001 . Irgendwo brannte ein Auto, Steine flogen. Wen überraschte das? Die Demoleitung rief immer noch zum Rückzug auf. Sie versuchte, die Demonstranten zu schützen. Aber der Zug kam nicht aus dem Kessel. Wasserwerfer rückten vor. Demonstranten errichteten Barrikaden und warfen Steine auf die Polizei. Wen die Polizisten erwischten, auf den prügelten sie ein, auch wenn er schon hilflos auf der Straße lag. Einige Demonstranten retteten sich auf die Piazza Alimonda. Aber auch dort waren Polizisten und zwei Jeeps der Carabinieri. Wütend warfen die Demonstranten Steine auf die beiden Militärfahrzeuge, und einer schlug mit einem Holzbrett eine Scheibe ein.
    Der 19-jährige Mario Placanica gehörte als Carabiniere im Wehrpflichtigendienst erst seit einem halben Jahr zu den 100 Carabinieri des XII. Bataillons Sicilia. Placanica hatte zuvor nur Erfahrungen beim Ordnungsdienst im Stadion von Palermo gemacht. Die Unterbringung in Genua war schlecht, »die Vorgesetzten brüllten die ganze Zeit«, sagte er, und sie bereiteten ihre Untergegebenen auf eine ganz besondere Lage vor: »Sie erzähltenuns, dass man uns mit Beuteln voll mit infiziertem Blut bewerfen würde. Es fühlte sich an, als müssten wir in den Krieg ziehen.« Liest man ein späteres Interview mit dem jungen Carabiniere, das eine ganze Reihe von Fragen aufwirft, kommen Erinnerungen an die deutschen Freikorps der 1920er

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