Zeit für Eisblumen
mich gefühlt hatte? Fast hätte ich gelacht. Ich hatte gedacht, jeden Moment tot umzufallen. Wie fühlte man sich in dieser Situation wohl?
„Ich hatte Angst. Was wahrscheinlich normal ist, wenn man befürchtet, gleich zu sterben.“
„Und wie hat sich diese Angst geäußert?“
„Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt“, erwiderte ich ein wenig unwillig. „Schwindel, Herzrasen. Ich bekam keine Luft mehr, mein Blickfeld verengte sich.“
„Wo haben Sie sich während Ihres zweiten Anfalls befunden?“
„Zu Hause. Im Bad.“ Dass ich darüber nachgedacht hatte, restaurative Maßnahmen bezüglich meines Gesichts zu ergreifen, erwähnte ich nicht.
„Was haben Sie in dieser Situation gemacht?“
Allmählich verlor ich die Geduld. Ich wollte eine umfangreiche körperliche Untersuchung, ein EKG, ein Kopfultraschall, irgendetwas, dass mir die Gewissheit gab, nicht todkrank zu sein. Was ich nicht wollte, war, mir die schrecklichen Situationen von heute Morgen erneut ins Gedächtnis zu rufen. Aber ich fügte mich.
„Ich bin zu meinem Freund gegangen und habe ihn darum gebeten, den Notarzt zu alarmieren.“
„Hat er das getan?“
„Nein“, gab ich widerstrebend zu. „Er hat die ganze Sache nicht ernst genommen.“ Mehr musste er nicht wissen.
Dr. Mertens sah mich einen Moment schweigend an, dann flitzte sein Stift über das Papier. Hatte ich etwas Falsches gesagt?
„Aber ist denn die Reaktion meines Freundes überhaupt wichtig?“, fragte ich ihn. „Können wir nicht direkt mit den Untersuchungen beginnen?“
Dr. Mertens winkte ab. „Zuvor möchte ich noch einiges abklären. Gab es Veränderungen in ihrem Leben?“
Einen Augenblick dachte ich darüber nach, ihm von David zu erzählen. Nein! Er hatte mit all dem nichts zu tun.
Ich schüttelte den Kopf. „Außer dass ich vor einigen Monaten wieder angefangen habe zu arbeiten, nichts.“
„Fühlen Sie sich durch Ihren Beruf gestresst?“
„Ist das nicht normal?“
Irritiert beobachtete ich, wie er erneut in meiner Patientenakte herumkritzelte.
„Hatten Sie vor dem heutigen Tag schon einmal ein solches Erlebnis?“, fragte er, ohne aufzublicken.
„Nein.“ Ich schnaubte. „Sonst hätte ich bestimmt eine gewisse Routine darin.“
„Gut.“ Er klappte meine Akte zu. „Setzen Sie sich bitte kurz ins Wartezimmer. Meine Sprechstundenhilfen werden Ihnen Blut abnehmen und ein EEG machen, um auszuschließen, dass Ihre Anfälle organische Ursachen haben.“
Als ich ins Wartezimmer zurückkehrte, schaute mein Vater müde von seiner Zeitschrift auf. „Und?“
Ich betrachtete den schlafenden Paul, der in seiner Babyschale neben ihm lag, und zog seine Decke ein wenig höher. „Dr. Mertens muss noch einige Untersuchungen machen. Du brauchst nicht zu warten. Ich nehme nachher den Bus.“
„Ich bleibe. Zu Hause wartet sowieso niemand auf mich. Dein Opa wird bei seiner neuen Freundin sein und deine Mutter ist bestimmt immer noch stinksauer, weil heute Mittag jemand ihre Hortensien im Vorgarten geköpft hat.“
„Oh!“ Ich riss gespielt entsetzt die Augen auf. „Hat Milla den Täter ermitteln können?“
„Nein, aber sie hat einen Fußabdruck im Beet gefunden. Es ist also nur noch eine Frage der Zeit.“
„Lass mich raten. Sie hat eins der Aibl-Kids im Verdacht.“
„Natürlich.“ Mein Vater schüttelte sich leicht. „Ich bin zwar auch nicht froh darüber, dass diese verlotterte Familie ins Haus gegenüber eingezogen ist, aber so hat deine Mutter wenigstens etwas, mit dem sie sich den ganzen Tag beschäftigen kann. Weiß Sam, dass du hier bist?“
„Nein. Er ist im Biergarten und heute Abend geht er zum Pokern. Ich habe ihm einen Zettel auf den Küchentisch gelegt.“
Mein Vater verzog geringschätzig das Gesicht. Ich wusste, was er dachte. Im Biergarten herumlümmeln und Karten spielen. Dafür hat er als Lehrer jetzt Zeit!
„Ich weiß, du magst ihn nicht“, sagte ich resigniert.
„Ich mag ihn“, widersprach er. „Er ist ein netter Kerl. Ich finde nur, dass ihm der Biss fehlt. Er ist nicht bereit, sich für etwas ins Zeug zu legen. Du hättest ihn auf unserer Wanderung sehen sollen …“
„Er hat mir von eurem Rennen erzählt“, unterbrach ich ihn genervt.
Diese blöde Wanderung! Warum musste mein Vater aus allem einen Wettkampf machen? Erst vor ein paar Wochen hatte er sich im Englischen Garten einen Battle mit einem anderen Großvater geliefert, der ebenfalls mit einem Kinderwagen unterwegs war. Dass er bei seiner
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